In den Jahrzehnten blutiger Gewalt in Kolumbien stand die ländliche Bevölkerung seit eh und je zwischen allen Fronten. Sich zu „Friedensgemeinden“ zu erklären, das war der Versuch von insgesamt 52 kolumbianischen Dörfern und Kleinstädten, sich aus dem Konflikt herauszuhalten – so wie die Gemeinde San José de Apartadó in Nordkolumbien, die dafür mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet wurde. 2016 schlossen Staat und Guerilla ein Friedensabkommen – aber wie unwillig, wie zögernd, wie lückenhaft es vor Ort umgesetzt wird, das schildern die regelmäßigen Berichte der Friedensgemeinde, die wir von der Wiesbadener AI-Gruppe 1541 für die Kolumbien-Interessierten ins Deutsche übersetzen.
Bringt das etwas? Lohnt sich das wirklich? Wer bei Amnesty mitarbeitet, kennt vermutlich diese Zweifel, und auch uns beschleichen sie immer wieder mal: Hat es wirklich Sinn, so einem winzigen Stückchen Kolumbien, so einer kleinen Gemeinde, so einer immer wieder auf dem Spiel stehenden Erfolgsgeschichte wie der Friedensgemeinde San José de Apartadó unsere Aufmerksamkeit, Zeit, Arbeit und Energie zu widmen? Wen interessiert schon der Blog aus San José, dessen Beiträge wir etwa einmal im Monat ins Deutsche übersetzen? Muss man sich nicht allgemeiner auf den scheiternden, wenn nicht schon gescheiterten Friedensprozess konzentrieren? Auf die Politik der Rechts-Regierung und deren aktuellen Skandale, wie kürzlich der Lauschangriff des Militärs auf Journalisten und Menschenrechtler?
Die Friedensgemeinde San José de Apartadó liegt östlich der Stadt Apartadó im Norden Kolumbiens, dem Zentrum des Bananenanbaus. Wenn man sie mit Google sucht, ist der ganze Bildschirm grün; vom Satelliten aus scheint Frieden zu herrschen da unten. Aber Friedensgemeinden – 52 gibt es zurzeit in Kolumbien – wurden im Krieg und gegen den Krieg gegründet. Um sich nicht zwischen den Guerrilla-Truppen einer- und der Armee und den Paramilitärs andererseits zerreiben zu lassen, erklärten sich umkämpfte Dörfer immer wieder zu Friedensgemeinden, die sich weder der einen noch anderen Seite anschließen wollten. Ihre wichtigste Waffe ist dabei die Waffenlosigkeit. Waffen sind – ebenso wie übrigens auch der Alkohol – in San José de Apartadó geächtet.
1997 erklärten sich die 1350 Bewohner zur Friedensgemeinde, und dafür haben sie einen hohen Preis bezahlt. Über 200 Menschen wurden in diesen 23 Jahren von den verschiedenen Akteuren der Gewalt getötet. Den Militärs galten Friedensdörfer als subversiv. Die Guerrilla bezichtigte sie der Kollaboration mit dem Staat. Die Paramilitärs wollen das Land oder wenigstens die Kontrolle darüber.
2005 wurde Luis Eduardo Guerra, der Sprecher des Friedensdorfes, zusammen mit seiner Lebensgefährtin und dem elfjährigen Sohn ermordet. Auch der Aktivist Alfonso Tuberquía, seine Frau und ihre beiden kleinen Kindern bezahlten den Widerstand gegen die Gewalt mit dem Leben. Als 2007 in der Gegend bekannt wurde, dass die Gemeinde im fernen Deutschland mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet wurde, wurden zwei Vertreter der Gemeinde getötet. Immerhin funktioniert manchmal die Justiz; zunächst freigesprochene Militärs wurden später zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt. Dennoch: Die Gegend, in der die Einwohner von San José etwa 100 Hektar Land bewirtschaften – auf etwa einem Drittel davon wächst Kakao auch für den Export –, ist spätestens seit 2011 eine Art Aufmarschgebiet der Paramilitärs.
Die Gemeinde hat eine Website, auf der wir immer mal nachschauen, ob ein neuer Blogbeitrag erschienen ist. Kontakt per Mail haben wir bisher nicht. So leicht ist die Kommunikation nicht. Die Website hat kein Impressum, keine E-Mail-Adresse, keine Telefonnummer, und wir können uns schon vorstellen, warum das so ist: Damit die Paramilitärs ihre Drohungen nicht auch noch elektronisch aussprechen können.
Darum drehen sich die Blogbeiträge stets: Um die Bedrohung, unter der das Friedensdorf und seine Bewohner auch 23 Jahre nach der Gründung tagtäglich stehen. Und um die Untätigkeit der Behörden, die selbst dann passiv bleiben, wenn die Dorfgemeinschaft in ihren Anzeigen die Handy-Nummern derer mitliefert, die Todesdrohungen ins Telefon flüstern. Und worum es auch immer wieder geht: Um die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls innerhalb des Friedensdorfes. Daher die immer wiederkehrenden Verweise auf die Vergangenheit vieler Kämpfe und leider auch vieler Niederlagen.
Ein direkter Kontakt wäre manchmal gut für uns Übersetzer. Manches, was den kolumbianischen Bloglesern geläufig ist, stellt uns vor Rätsel. Ein einfaches Beispiel: Das Wörterbuch übersetzt die Vokabel „vereda“ mit Pfad, Neben-, Seitenweg, Schneise – schön und gut, aber in den Texten trugen diese „veredas“ Heiligennamen. Mysteriös. Bis wir auf die Idee kamen, mal „veredas Colombia“ zu googeln und dabei lernten, dass das Wort „vereda“ ein Kolumbianismus ist, der mit Dorf, Weiler oder Ansiedlungen zu übersetzen ist. Was insofern logisch ist, als Dörfer, Weiler, Ansiedlungen genau da entstehen, wo Schneisen durch den Busch geschlagen wurden.
Mitunter ist uns etwas unwohl beim Übersetzen. „Helden“ und „Märtyrer“ sind bei uns – egal ob sprachliche oder reale – Figuren der Vergangenheit; in Kolumbien gehören sie wohl zur Gegenwart. Auch bei den Anflügen von vielleicht etwas plakativen Erklärungsansätzen – dass etwa „das Imperium“ schuld daran trägt, dass Kolumbien diese oder jene Politik verfolgt – ist uns manchmal nicht ganz wohl. Die allzu genauen Details juristischer Verfahren lassen wir ebenso großzügig weg wie allzu präzise Ortsangaben. Wir können uns nicht vorstellen, dass sie, so wichtig sie für die Kolumbianer sein mögen, deutschen Lesern viel sagen.
Tja – bringt das was? Lohnt sich das? Ja, meinen wir. Man kann ja, wenn man sich für die Menschenrechtslage in Kolumbien interessiert und sich bei Amnesty International dafür engagiert, die großen Züge der Politik verfolgen, indem man die zahlreichen Informationsquellen anzapft, die heutzutage dank des Netzes reichlich sprudeln. Aber der Blick auf San José de Apartadó, auf diesen kleinen Ausschnitt des kolumbianischen Konflikts, hat einen Vorteil, den der Überblick nicht gewährt. Das Leben von Menschen, die sich ausdrücklich zum Frieden bekennen und die unentwegt, tagtäglich in ihrer materiellen und physischen Existenz bis hin zum Tod bedroht sind – das gewinnt erst durch den Blog seine Konturen und düsteren Farben.