Rechtsprechung mit gespaltener Zunge

Erneut wollen wir, die Friedensgemeinde San José de Apartadó, Sie alle wissen lassen, wie wir von Tag zu Tag leben und leiden. Unser normales Leben ist seit jeher von Bedrohung, Gefahr und Leid geprägt gewesen, weil die Institutionen unseres Landes von Anfang an entschlossen waren, unsere Friedensgemeinde infrage zu stellen und anzugreifen statt uns zu beschützen.  Kriminelle Gruppen, die die Protektion staatlicher Stellen genießen, wurden eingesetzt, um uns zu bedrohen, um uns als Fremde im eigenen Land auszugrenzen oder, noch schlimmer, um uns als „innere Feinde“ zu brandmarken, die weder den Respekt noch den Schutz verdienen, die die verbrieften Menschen- und Bürgerrechte in Kolumbien gewähren.

Früher genossen wir wenigstens zeitweise den Schutz des Verfassungsgerichts (Corte Constitucional),  das in mehreren Urteilen und Beschlüssen unsere Grundrechte bestätigt und deren Achtung gefordert hat. Daraus folgten klare Anordnungen für das Verhalten der  kolumbianischen Regierung – Anordnungen, die jedoch am Ende vom Staatspräsidenten, seinen Ministern und den anderen staatlichen Stellen missachtet und verhöhnt wurden. Diese Rechtslage hat sich nun noch einmal deutlich geändert: Das höchste Gericht Kolumbiens hat in einem uns betreffenden Beschluss – und zwar offenbar auf politischen Druck hin –  seine fundamentale Verpflichtung aufgegeben, die Grundprinzipien der Verfassung des Landes zu wahren.

Das beweist der jüngste uns betreffende Beschluss des Verfassungsgerichtes. Es weist unsere Anfechtungsklage gegen ein früheres Urteil ab, das sich dem Rechtsstandpunkt der 17. Heeresbrigade anschließt, die eindeutig nicht nur der kolumbianischen Verfassung, sondern in vielfacher Weise auch dem Völkerrecht zuwiderläuft (wie in früheren Blog-Beiträgen ausgeführt, hatte die in Urabá stationierte 17. Heeresbrigade, die der Friedensgemeinde seit langem feindlich gegenübersteht, gegen die Anschuldigungen der Friedensgemeinde, sie kooperiere mit den Paramilitärs, 2018 ihr „Recht auf den guten Namen“ – derecho al buen nombre – eingeklagt und dabei Recht bekommen. Die entsprechenden Paragraphen des deutschen Strafgesetzbuches wären §186 Üble Nachrede und §187 Verleumdung, Anm. d. Ü.).

Dieser Rechtsstreit kam nun vor eine Revisionskammer des Verfassungsgerichts, wo ein Richter von bekanntermaßen reaktionärer Gesinnung dem Druck des Militärs nachgab  und eine Beschlussvorlage ausfertigte, in der er das „das Recht der 17. Heeresbrigade und ihrer Angehörigen auf ihren guten Ruf schützt“. Dabei wird argumentiert, dass unsere Anschuldigungen „die Unschuldsvermutung missachten, sofern sie der genannten Militäreinheit die Übereinstimmung und die Komplizenschaft mit paramilitärischen Gruppen zuschreibt, ohne dass eine derartige Situation durch richterlichen Entschluss festgestellt worden wäre“.

Dieses frühere Urteil hatten namhafte Völker- und Verfassungsrechtler als Skandal empfunden. Denn einerseits missachtet der Spruch so hohe Rechtsgüter wie die Meinungsfreiheit, die als einer der Grundpfeiler der Demokratie gilt. Und andererseits übergeht der Spruch das entscheidende Kriterium, das die Verfassung zur Bestimmung anführt, ob jemand das Recht auf Wahrung seines guten Rufes beanspruchen kann: Der gute Ruf muss durch entsprechendes Sozialverhalten verdient worden sein. Dabei wusste das Gericht jedoch, dass die 17. Heeresbrigade in Zusammenarbeit mit Paramilitärs in fürchterliche Bluttaten verwickelt war, und in einem Absatz des Urteils drückt sie sogar die Befürchtung aus, dass sich solche Vorfälle wiederholen.  Ob das, was unsere Friedensgemeinde gegen das Militär vorgebracht hat, richtig oder falsch ist, wird gar nicht bewertet, es wird nicht einmal angeordnet, dass unseren Anschuldigungen nachgegangen wird.  Ein so abwegiges Urteil weckte die Solidarität befreundeter Anwälte, die einen Anfechtungsantrag verfassten, der dann von namhaften Juristen aus verschiedenen Ländern und internationalen Menschenrechtsorganisationen unterstützt wurde.

Alles wies also darauf hin, dass das besagte Urteil aufgehoben würde. Aber am 13. Mai 2021 entschied die Revisionskammer des Verfassungsgerichts mit nur einer Stimme Mehrheit, dass das Urteil nicht aufgehoben wird – offenbar um einen Ansehensverlust des Gerichtes zu vermeiden, der durch eine Annullierung des früheren Urteils entstanden wäre. Transparenz war noch nie eine herausragende Tugend der Justizbehörden, die sich ihrer Macht rühmen. Der Verlautbarung des Gerichtshofes zufolge waren vier Richter für, vier gegen die Annullierung (da der Kammer neun Richter angehören, war offenbar das Votum des Vorsitzenden entscheidend, der sich ebenfalls gegen die Aufhebung aussprach, Anm. d. Ü.).

Bei der Lektüre ihrer zusammenfassenden Argumente wird jedoch deutlich, dass fast alle Richter mit dem Urteil nicht einverstanden waren. Nicht aufgehoben wurde es jedoch nicht, weil seine zentrale Argumentation gebilligt worden wäre, sondern weil die formale Begründung für die Anfechtung nicht gut genug herausgearbeitet gewesen sei. Aber wie kann man von einem  Opfer oder seinem Anwalt verlangen, die verfassungsrechtliche Technik zu beherrschen? Waren nicht die Richter selbst aufgerufen, diese technischen Argumente zu perfektionieren?

Es ist klar, dass acht der neun Richter der Ansicht sind, dass das Militär nicht auf Rufschädigung klagen kann, am wenigsten die 17. Brigade, und dass das Recht der Friedensgemeinde auf freie Meinungsäußerung nicht eingeschränkt werden kann, insbesondere wenn sie ihre Beschwerden über das Verhalten des Militärs vorbringt. Diese Sichtweise ist jedoch nicht vereinbar mit der Entscheidung des Gerichts, das, indem es die Anfechtungsklage abweist, das frühere Urteil für gültig erklärt und dadurch ein Recht schützt, das nicht schützenswert ist – das auf einen guten Ruf – und zugleich ein Recht einschränkt, das nicht eingeschränkt werden darf, nämlich das der freien Meinungsäußerung.

Ein Teil der Richter bekräftigt ausdrücklich: „Die geltende Rechtsprechung verlangt zum Schutz der verfassungsrechtlichen Garantie des guten Rufs ein tadelloses Verhalten desjenigen, der dieses Recht beanspruchen will. Wenn also gerichtliche Entscheidungen gegen jemanden vorliegen, die dieses tadellose Verhalten dementieren, kann derjenige nicht  den Schutz seines Rechts auf seinen guten Ruf für in der Vergangenheit begangene Verbrechen oder Unterlassungen beanspruchen. Das Gericht hat ausdrücklich festgestellt, dass das Recht auf einen guten Ruf, das ohnehin auf Einzelpersonen zugeschnitten ist, außerdem direkt mit dem „Ansehen zusammenhängt, das die Mitglieder einer Gesellschaft jemandem zubilligen, wobei der Ruf oder der Ruhm der Person die Komponente ist, die den Rechtsschutz aktiviert. Da die Garantie also hohes Ansehen,  gesellschaftliche Anerkennung und tadelloses Verhalten dessen, der den Anspruch auf Schutz seines guten Rufes erhebt,  zur Voraussetzung macht, war es in diesem Fall unserer Meinung nach nicht möglich, das Recht der 17. Heeresbrigade auf guten Ruf nach den einschlägigen Rechtsprechungen zu schützen. Tatsächlich zeigen die mehr als zehn Urteile des Interamerikanischen Menschenrechtssystems, die verschiedenen Folgebeschlüsse des Verfassungsgerichts und die unterschiedlichen Gerichtsentscheidungen auf nationaler und internationaler Ebene, dass die Zusammenarbeit der 17. Brigade und der paramilitärischen Gruppen, die in der Gegend von Urabá operieren,  bei den gewalttätigen Aktionen, denen  die Mitglieder der Friedensgemeinschaft zum Opfer fielen, nachgewiesen ist (…) Folglich war es angebracht, das Urteil (…) aufzuheben“.

Sowohl die Verlautbarung  als auch die Stellungnahmen der Richter betonen, dass das Urteil, dessen Anfechtung beantragt wurde,  weder die Berichte der Friedensgemeinde (über die Übergriffe von Seiten der Militärs, Anm. d. Ü.)  noch deren Veröffentlichung in den sozialen Netzwerken untersagt. Wenn jedoch zugleich das ursprüngliche Urteil nicht aufgehoben wird, dann ist das völlig widersprüchlich. Da fehlt jegliche Kohärenz – das Gericht spricht mit gespaltener Zunge. (…)

Getragen von unseren unerschütterlichen Überzeugungen geben wir hiermit die jüngsten Ereignisse zu Protokoll:

  • Am Sonntag, 30. Mai, bedrohte ein Paramilitär namens „El Flaco“ einen Bewohner im Stadtgebiet von San José öffentlich mit einer Schusswaffe, ohne dass die Ordnungskräfte einschritten. Offenbar musste das Opfer das Gebiet für einige Tage verlassen, um sein Leben zu retten.
  • Am selben Tag erfuhren wir, dass der unter dem Decknamen „Cristian“ bekannte Paramilitär zusammen mit anderen aus seiner Gruppe von den Anliegern Geld für die Reparatur der Straßen fordern, die durch das schwere Gerät der 17. Brigade beim Bau der neuen illegalen Verbindungswege angerichtet wurden (wie in früheren Blog-Beiträgen beklagt, stellt die Brigade ihre Maschinen für den Bau von neuen, ohne die vorgeschriebenen Genehmigungsverfahren angelegten Straßen zur Verfügung, für die die Anlieger bezahlen sollen, obwohl es naheliegt, dass diese Verbindungswege die Region für landwirtschaftliche Entwicklungsprojekte erschließen sollen, die langfristig zur Vertreibung der Siedler führen werden, Anm. d. Ü.) .
  • Am Dienstag, 1. Juni, fuhr eine Gruppe von mehr als zehn Paramilitärs mit Gewehren und Funkgeräten durch das Dorf El Porvenir. Angeblich sind sie dort dauerhaft ohne Einschränkung unterwegs und haben bereits eine Einsatzzentrale zur Kontrolle des Gebiets.
  • Am Samstag, 5. Juni, erhielten wir Informationen, wonach die Feier des Bauernfestes im Dorf La Unión von der Junta de Acción Comunal (verfassungsmäßig vorgesehenes lokales Mitbestimmungsgremium, in der Praxis häufig von den örtlichen Machthabern korrumpiert, Anm. d. Ü.) mit der 17. Brigade organisiert wird. Besorgniserregend ist dies wegen der hohen Präsenz von einigen bekannten Paramilitärs dort, die Waffen tragen und in der Gegend umherschießen, wie wir mehrfach beklagt haben, was aber stets ignoriert wurde.
  • Am Nachmittag des Freitag, 11. Juni, fingen zwei Paramilitärs ein Kind unserer Friedensgemeinschaft auf der Straße ab, die zum Dorf San José führt, und beauftragten es, ihre Drohungen an uns weiterzuleiten: „Sag diesem gesetzlichen Vertreter der Gemeinde, dass er sich hüten soll, weil wir demnächst dort einmarschieren werden!“
  • Am Samstag, 12. Juni, wurden tagsüber zwei Paramilitärs mit Funkgeräten und Handfeuerwaffen in der Nähe des Dorfes La Unión gesehen.
  • Am Donnerstag, 17. Juni, wurde ebenfalls tagsüber eine unbekannte bewaffnete Gruppe gesehen, die durch das Dorf La Unión ging. Unseren Informationen zufolge sind es Paramilitärs, die uniformiert und mit Gewehren in dem Gebiet patroulieren, ganz so, als wären sie staatliche Sicherheitskräfte.
  • Am Samstag, 19. Juni, tauchte dieselbe Gruppe genauso uniformiert und bewaffnet im Dorf Las Nieves von San José de Apartadó auf.

Wir danken erneut den Menschen und Gemeinschaften, die uns in verschiedenen Teilen des Landes und der Welt aus tiefster Überzeugung in diesen mehr als 24 Jahren unserer Existenz begleitet haben und die trotz der Isolation durch die Pandemie weiterhin täglich Druck auf die kolumbianische Regierung ausüben, um zu verhindern, dass unser Leben, unser Besitz, unser Erbe zunichte gemacht wird. Unsere aufrichtige Dankbarkeit dafür, dass Ihr alle diese  Verteidigung aufrechterhaltet. Das ermutigt uns, unsere Prinzipien weiterhin zu verteidigen.