Wie lange wird die paramilitärische Vorherrschaft in einem sich wandelnden Kolumbien noch andauern?

Die Barbarei des Todes kennt kein Ende: Paramilitärs ermorden einen jungen Bauern in San José. Die Ereignisse fanden am 23. September statt, ganz in der Nähe der Polizeistation und der Militärbasis. Das Opfer ist ein örtlicher Landwirt. Die Leiche lag am Tag nach der Tat immer noch am Fundort.

Unsere Friedensgemeinschaft wendet sich erneut an die nationale und internationale Gemeinschaft, um über die jüngsten Ereignisse zu berichten, die das Leben der Zivilbevölkerung in unserem Umfeld bedrohen und die sich gegen die Existenz unserer Friedensgemeinschaft richten. In unserem Gebiet herrscht weiterhin der Tod, da die Paramilitärs weiterhin ihre Waffen einsetzen, um ihre Botschaft zu verkünden: „Entweder ihr unterwerft euch oder ihr sterbt“.

Die Fakten, die wir der Öffentlichkeit zur Beurteilung zur Kenntnis geben, sind folgende:

Am Freitag, 16. September, traf eine Gruppe von Ingenieuren und Technikern auf dem Grundstück La Roncona unserer Friedensgemeinschaft ein. Sie sprachen mehrere Mitglieder von uns an und zeigten Dokumente vor, nach denen sie den Auftrag hätten, im Abschnitt zwischen Caracolí und San José das dortige Schwemmland des Flusses San José auf seinen geologischen Gehalt zu untersuchen. Die Papiere besagten, sie seien befugt, dieses Gebiet zu betreten, das jedoch Privatbesitz unserer Friedensgemeinschaft ist. Sie kündigten an, dass sie das Gebiet auf die Möglichkeit der Ausbeutung von Kohle in der Serranía de Abibe sowie von Kalkstein, Öl und Gold untersuchen wollten.

Diese Ankündigungen erfolgen vor dem Hintergrund der illegalen Ausbeutung des Schwemm-Materials des Flusses durch das Bürgermeisteramt und Privatpersonen, die es kommerziell verwerten. All dies entspricht einem offensichtlichen Entwicklungsplan, der bei einem kürzlichen Besuch einer anderen Delegation in der ersten Augustwoche 2022 angekündigt wurde, die in mehreren Dörfern der Gemeinde San José de Apartadó zugegen war.

Am Freitag, 23. September, fand tagsüber im Stadtzentrum von San José ein Betreuungstag für die Zivilbevölkerung statt, an dem u.a. eine Gesundheitsbrigade, Vertreter der Opferbetreuung und Standesbeamte teilnahmen (Die kolumbianische Justiz unterhält Teams von Anwälten und anderen juristisch gebildeten Personen, die sich der Betreuung von Opfern kriminieller Handlungen widmen (“Atención a Víctimas”). Dabei geht es vor allem auf dem Land darum, den Betroffenen den Zugang zur Justiz zu erleichtern, sie über ihre Rechte aufzuklären und sie zu unterstützen. – In vielen entlegenen Gegenden nicht nur Kolumbiens, sondern Südamerikas werden ambulante Standesämter herumgeschickt, um Eheschließungen, Todesfälle und Geburten zu registrieren, was unter anderem der erbrechtlichen Klarheit dient. Anm. d. Ü.) . Laut Zeugenaussagen waren mehrere Beamte aus dem Büro des Bürgermeisters anwesend. Diese sozialen Aktivitäten, die von staatlichen Stellen in Kolumbien durchgeführt werden, finden weiterhin inmitten der Präsenz bekannter Paramilitärs, Militärs und Polizisten statt. Das ist in diesem Gebiet Routine, aber wir finden es inakzeptabel.

Am selben Freitag wurden gegen 18 Uhr in der Nähe der Stadt San José mehrere Schüsse abgefeuert, die das Leben des jungen Bauern Jimmi Andrés Tuberquia, 18 Jahre alt, aus dem Dorf La Unión beendeten. Jimmi war am 10. Januar 2020 von den Paramilitärs im Dorf La Unión rekrutiert worden, hatte La Unión nach Todesdrohungen der Paramilitärs im Juli 2021 verlassen und war von Verwandten nach Medellín gebracht worden.

Am Samstag, 24. September, bildeten Mitglieder unserer Friedensgemeinschaft, nachdem sie vom Tod Jimmis erfahren hatten, eine Kommission und begaben sich zu der Stelle, an der am Vortag die Schüsse fielen. Sie fanden die Leiche des jungen Tuberquia am Ufer des Flusses San José. Stunden später trafen die zuständigen Behördenvertreter am Tatort ein und nahmen die Leiche mit. Trotz der Nähe zum Militärstützpunkt und zur örtlichen Polizeistation musste die Familie des Opfers mehr als 18 Stunden lang warten, bis der Leichnam freigegeben wurde.

Als Angehörige und Gemeindemitglieder den toten Jimmi schließlich wegtrugen, näherte sich ein bekannter Paramilitär, fotografierte die Szene und den toten Körper und verschwand danach.

Die digitale Zeitung “Alertapaisa” meldete am Samstag den Tod von Jimmi und schrieb, die Leiche sei nach Angaben der Behörden „drei Kilometer“ von San José entfernt aufgefunden worden. Weiter hieß es: „Die Behörden untersuchen die Hintergründe des Verbrechens und ob der junge Mann an dem Ort, an dem er gefunden wurde, ermordet wurde“. – Die Presse und die Behörden verzerren alles und versuchen, die Aufmerksamkeit von der Realität, unter der wir leiden, abzulenken.

Am Sonntag, 25. September, erfuhr unsere Gemeinde, dass ein unter dem Alias-Namen Franco bekannter Paramilitär, der in den Dörfern von San José operiert, durch einen neuen paramilitärischen Kommandanten ersetzt wurde, der in der Gegend angekommen ist, um die Kontrolle auszuüben. Dieser kündigte an, dass er eine Liste von Personen aus dem Stadtzentrum von San José und anderen Dörfern habe, die er töten wolle, und beschuldigte sie, Rebellen zu sein, wenn sie seine Befehle nicht befolgten. Darunter befindet sich auch die Friedensgemeinde. Er kündigte außerdem die Hinrichtung von angeblichen Dieben und Drogen-Konsumenten an – Substanzen, die von den Paramilitärs selbst geduldet, konsumiert und verkauft werden.

Am selben Sonntag verschwand nachts ein weiterer junger Mann aus dem Dorf San José und wurde mehr als 24 Stunden lang von den Paramilitärs festgehalten und gefoltert. (…)

Am Dienstag, 27. September, zeigt das Militär tagsüber im Stadtzentrum von San José de Apartadó starke Präsenz, ebenso an der Straße, die vom Stadtzentrum von Apartadó nach San José führt. Nach Angaben regionaler Medien handelte es sich dabei um eine Sicherheitsoperation. In Wahrheit hat die Anwesenheit der Sicherheitskräfte nur dazu gedient, die Paramilitärs zu schützen, die seit mehr als zwei Jahrzehnten zusammen mit den Sicherheitskräften Verbrechen in den Dörfern des Bezirks begehen.

Am Freitag, 30. September, waren gegen 19 Uhr in der Nähe des Stadtzentrums von San José de Apartadó mehrere Schüsse zu hören. und das  inmitten einer Sicherheitsoperation von Armee und Polizei im besiedelten Gebiet und am Stadtrand von San José.

Am Samstag, 1. Oktober, konnte man bei den Aktivitäten des Entminungsbataillons Nr. 6, bei denen der Hubschrauber auch außerhalb des Dorfes La Unión landete, beobachten, wie Kinder inmitten der Manöver dabei waren und dass das die Truppen einfach toleriert haben. Wir lehnen es nach wie vor ab, dass die Zivilbevölkerung, insbesondere Minderjährige, bei solchen Manövern, die in die unmittelbare Zuständigkeit der Militärbehörden fallen, dabei sein soll.

Angesichts der ständigen Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen aus unserer Umgebung, die mit verschiedensten Versprechungen angelockt und so in den Krieg verwickelt werden, bekräftigen wir erneut, dass es unmenschlich ist, sie in das Rennen des Todes zu schicken. Der Traum von einem Leben ohne Krieg darf ihnen nicht verwehrt werden.

Am Montag, 3. Oktober, schlich sich ein Unbekannter nachts gegen drei Uhr heimlich in unsere Siedlung San Josesito, offenbar mit dem Ziel, unsere Mitglieder und die Wohnräume unserer Siedlung auszuspionieren.

Unser ständiger Dank gilt all jenen, die uns aus verschiedenen Regionen und Nationen mit ihrer solidarischen Unterstützung begleiten!

Friedensgemeinschaft San José de Apartadó, 4. Oktober 2022