„Bewaffneter Ausstand“ – eine Schande für die Regierung

Erneut wendet sich unsere Friedensgemeinde an die Öffentlichkeit, um neue Tatsachen bekanntzugeben, die das gemeinsame Vorgehen von Paramilitärs und Staat beweisen.

Unsere Region befindet sich weiterhin in einem Teufelskreis, in dem das soziale und bäuerliche Leben unterdrückt wird, in dem bedroht, gefoltert und getötet wird. Es ist stets der Paramilitarismus, der sich durchsetzt und dem die gesamte Bevölkerung gehorchen muss – und wer das nicht tut, muss die bitteren Konsequenzen tragen.

Wie lange wird die Regierung noch zulassen, dass diejenigen, die das Land für einen bescheidenen Lebensunterhalt ihrer Familien bewirtschaften, weiterhin bespitzelt, bevormundet, beherrscht werden? – Es ist eine Schande, dass die Regierungen in Bogotá, während sie im Amt sind, hunderttausende von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht zulassen, darunter auch die Morde an Führungspersönlichkeiten in den letzten Monaten. Diese Haltung führt dazu, dass die Opfer dem Vergessen anheimgegeben werden, während die Täter in den Genuss absoluter Straflosigkeit kommen. Was für ein Schmerz!

Der Paramilitarismus ist nach wie vor die größte Macht, die stets bereit ist, die Drecksarbeit zu erledigen, die die staatlichen Institutionen nicht selbst machen können. Urabá (die an den Atlantik grenzende Region des Departements Antioquia, in der San José de Apartadó liegt, Anm. d. Ü.) ist ein Beispiel dafür, weil hier die 17. Heeresbrigade und die Polizei die Garanten und Verbündeten der Paramilitärs waren. Bei vielen Gelegenheiten operierten sie gemeinsam, um Massaker in Urabá und auf dem Land zu verüben, deren Opfer sich oft als „falsos positivos“ herausstellten (Die kolumbianische Armee hat, wie sich vor Jahren herausstellte, bewusst nichtkämpfende Zivilisten ermordet und die Leichen dann als die von getöteten Guerrilleros ausgegeben – ein Skandal, der unter dem Stichwort „falsos positivos“ in die kolumbianische Geschichte eingegangen ist, Anm. d. Ü.).

Heute sieht es nicht so aus, als ob diese Allianzen ein Ende hätten. Denn die Paramilitärs, die sich AGC nennen, haben die absolute Kontrolle über das gesamte Gebiet. Sie koexistieren sogar mit den staatlichen Ordnungskräften in San José, Nuevo Antioquia, Piedras Blancas und anderen Dörfern in Urabá, und es besteht nicht das geringste Interesse, diese paramilitärischen Strukturen aufzulösen. (Die AGC – Autodefensas Gaitanistas de Colombia – sind eines der mächtigsten Drogenkartelle des Landes. Früher Los Urabeños und Clan Úsuga genannt, wird die Stärke der AGC auf 3000 Mann geschätzt. Die Gruppe, die auch Clan del Golfo genannt wird, weil der Golf von Urabá ihre ursprüngliche Heimat ist, spielt eine entscheidende Rolle im weltweiten Kokain-Geschäft; sie unterhält Handelsverbindungen mit der Organisierten Kriminalität in Mexiko ebenso wie mit der italienischen. Als im Oktober 2021 ihr Chef Dario Antonio Úsuga David, genannt Otoniel, festgenommen wurde, triumphierte Präsident Iván Duque, nun seien die Tage der AGC gezählt. Aber ob geschwächt oder nicht – für die Friedensgemeinde hat sich an der Vorherrschaft der AGC nichts geändert. Anm. d. Ü.)

Die Präsidentschaftswahlen stehen vor der Tür (erster Wahlgang am 29. Mai, Stichwahl am 19. Juni wahrscheinlich, Anm. d. Ü), und die verschiedenen gemeinsamen Aktionen der Akteure, die unser Land regiert, verkauft und ausgeblutet haben, sind offensichtlich. Sie suchen nach einer Möglichkeit, sich weiterhin an der Macht zu halten, und setzen dabei auf die Korruption in den bestehenden Kontrollorganen der verschiedenen staatlichen Institutionen. Hoffentlich setzen sich die guten Ideen für ein besseres Land durch, denn es ist Zeit für einen Wechsel dieser Diktatur, die das Land nur zerstört und ruiniert hat.

Die neusten Ereignisse bei uns:

Am Karfreitag, 15. April, fand im Dorf La Esperanza in der Gemeinde San José eine Veranstaltung statt, bei der als „El Cochero“ bekannte Paramilitär inmitten einer großen Menschenmenge seine Hochzeit feierte. Diese Figur kam vor einiger Zeit als Paramilitär in das Dorf El Porvenir, um dort die Kontrolle auszuüben.

Am Freitag, 22. April, fand im Dorf La Unión, im Corregimiento (Landkreis) von San José de Apartadó, ein Tag der kollektiven Arbeit zur Instandsetzung der nicht asphaltierten Straße statt, der von der örtlichen Junta de Acción Comunal (Mitbestimmungsgremium auf kommunaler Ebene, meist von den örtlichen Herrschenden kooptiert, Anm. d. Ü.)  gefördert wurde und an dem Mitglieder der 17. Heeresbrigade teilnahmen. Dabei verlas ein Vertreter der Armee die öffentliche Erklärung unserer Friedensgemeinde vom 18. April, in der wir die enge Zusammenarbeit von Paramilitärs und der Armee angeprangert und Beweise dafür vorgelegt hatten. Der Uniformierte sagte spöttisch, wir würden sicherlich auch diesen Tag der kollektiven Arbeit anprangern. Nebenbei stellte sich heraus, dass der Uniformierte unsere Berichte und Beschuldigungen schlicht zurückweist. Er sagte, er habe die Ladenbesitzer von La Unión nach Hinweisen auf den Paramilitär mit dem Aliasnamen Adolfo Guzmán befragt – aber wie kann man die Opfer in Anwesenheit des Täters befragen? – Denn Guzmán befand sich während der Befragung ganz in der Nähe der Militärs und der Händler, wie wir gesehen haben. Guzmán hatte am 3. April in La Unión Ladeninhaber bedroht (…) Guzmán wohnt in einem Haus neben den Einrichtungen der Armee, die dem Minensuch-Bataillon Nr. 6 angehören. Aber angeblich kennt ihn niemand – am wenigsten die Militärs. (…)

Am Sonntag, 24. April, als sich eine Kommission unserer Friedensgemeinschaft in das Dorf La Resbalosa begab, wurde festgestellt, dass dort mehrere bekannte Paramilitärs anwesend waren (…).

Ebenfalls am Sonntag, 24. April, wurde unsere Friedensgemeinde in dem Dorf La Resbalosa über Drohungen eines Paramilitärs gegen die Lehrerin des Dorfes informiert. Der Paramilitär sagte der Lehrerin, ihre Tage seien gezählt. Sie wurde mittlerweile an eine andere Schule versetzt.

Am Montag, 25. April, fanden Mitglieder unserer Friedensgemeinde bei der Ausbesserung der Gemeindestraße in dem schlammigen Gebiet des Dorfes Mulatos einen Sprengsatz, der neben der Straße angebracht war. Dem schlechten Zustand des Sprengsatzes nach zu urteilen, hatte er schon viele Jahre dort gelegen. Solche Minen werden angeblich vom Minenräumungs-Bataillon Nr. 6 entschärft. Offenbar sind Millionen von Dollar in diese Operationen investiert worden, ohne dass freilich bisher nennenswerte Fortschritte bei der Minenräumung erzielt wurden. Wir glauben, dass die Präsenz des Bataillons bei uns ganz anderen Interessen dient. Ihre soziale Integration ist eher ihr Ziel als die Suche nach Sprengkörpern.

Ebenfalls am Montag, 25. April, wurde unsere Friedensgemeinde im Dorf Mulatos (…) auf die ständige Anwesenheit des Paramilitärs alias Gripin bei Versammlungen und anderen Aktivitäten im Gemeinschaftshaus aufmerksam. Dieser Paramilitär, der in der Gegend den Ton angibt, wohnt in dem Haus im Dorf Mulatos Medio.

Am Donnerstag, 5. Mai, erhielten wir die Information, dass die Paramilitärs einen sogenannten bewaffneten Ausstand ausgerufen hatten, der vom 5. bis zum 10. Mai dauern sollte.  Am Nachmittag wurden der Handel und der Verkehr eingestellt.  Eine Gruppe von Schülern aus Arenas Altas, die sich mit anderen Schülern in La Unión treffen wollten, wurde von Paramilitärs abgefangen, die die jungen Leute aufforderten, in ihre Häuser zurückzukehren. Am Freitag, 6. Mai, zeigte sich, dass der von den Paramilitärs angeordnete Ausstand befolgt wurde. Einkaufszentren, Büros, der Verkehr und alle Aktivitäten im Allgemeinen waren auf Befehl der Paramilitärs lahmgelegt, Autos gingen in Flammen auf. (Die AGC hatte den „bewaffneten Ausstand“ landesweit aufgerufen, weil ihr im vergangenen Herbst festgesetzter Führer „Otoniel“, siehe oben, an die USA ausgeliefert wurde. In elf der 32 Departements wurden die Anordnungen der Paras mehr oder weniger strikt befolgt, sechs Menschen wurden getötet, 180 Autos wurden beschädigt, die meisten davon angezündet. – Dass die AGC die Macht hat, solche Aktionen anzuordnen und durchzusetzen, dementiert nach Meinung von Beobachtern die triumphierende Aussage von Präsident Duque, die AGC seien durch Otoniels Festnahme am Ende. Anm. d. Ü.)

Wir fragen uns: Wo sind die staatlichen Sicherheitskräfte? Was ist aus der Rechtsstaatlichkeit geworden? Ist das nicht der Beweis, dass der Staat von den Mafias und ihren politischen Helfershelfern gekapert ist? – Es ist offensichtlich, dass uns die Waffen nicht befreien, sondern im Gegenteil versklaven.

Am Freitag, 6. Mai, wurde bekannt, dass zwei Paramilitärs am Tag zuvor in La Unión den Händlern befahlen, ihre Geschäfte zu schließen, und die Bevölkerung aufforderten, den geplanten kommunalen Arbeitseinsätze abzusagen.  Auch persönlichen Aktivitäten außerhalb des Hauses, also etwa Feldarbeit, untersagten sie. Diese beiden Paramilitärs machen ungeniert ihre Runden im Stadtzentrum von La Unión und stießen ihre Verbote und Drohungen aus. Dabei gibt es in La Unión   eine starke Militärpräsenz. Die Armee hatte ja sogar die Gemeinschaftsarbeiten mit der Junta de Acción Comunal geplant. Aber sie zog es vor, sich der paramilitärischen Kontrolle zu beugen.

Am Freitag, 6. Mai, waren im Stadtgebiet von San José die Geschäfte geschlossen. Die Gemeinde war eine Geisterstadt, kein einziger Soldat, kein einziger Polizist war dort zu sehen, nicht einmal in den Militärgarnisonen. Die Soldaten und Polizisten sind eingesperrt.  Das alles beweist, wie nachsichtig die Regierung den Paramilitärs gegenüber ist. Die Regierung erlaubt ihnen einfach die Kontrolle und Unterwerfung der Zivilbevölkerung. Sodass San José und seine umliegenden Dörfer zu einem Tummelplatz für die Paramilitärs und die Sicherheitskräfte geworden sind, die ungestört und in aller Ruhe und Freiheit ihre Verbrechen verüben können.

Jedes Mal, wenn wir uns an unsere Leiden erinnern, erneuern wir auch unsere Dankbarkeit gegenüber den vielen Menschen und Gemeinschaften in Kolumbien und im Ausland, die im Geiste an unserer Seite stehen.

Friedensgemeinde San José de Apartadó, 6. Mai 2022