Einmal mehr hat unsere Friedensgemeinschaft von San José de Apartadó die ethische und moralische Verpflichtung, Zeugnis abzulegen von dem, was wir erleben und erleiden. In den letzten Tagen ist uns bewusst geworden, dass unser erstes Vierteljahrhundert als Friedensgemeinschaft vergangen ist. Das zwingt uns zurückzublicken, um die Irrungen und Wirrungen unseres Weges zu verstehen. Die Erschütterungen und Ängste hören nicht auf, aber wir streben nicht nur nach Ruhe, sondern vor allem nach Zusammenhalt und Aufrichtigkeit. Wir sind nach wie vor vom Paramilitarismus umgeben und bedroht, der sich immer mehr zu einer staatlichen Macht entwickelt. Die Paras handeln am helllichten Tag, bedrohen jeden und haben nichts zu befürchten, weil sie vom Staat geschützt werden. Wir können nicht schweigen, sondern müssen dies alles bekannt machen.
Heute wollen wir die folgenden Fakten festhalten:
Seit den letzten Februarwochen 2022 haben in der Region bekannte paramilitärische Kommandanten verstärkt einige frühere Kämpfer der ehemaligen FARC-EP verfolgt, die sich an die Friedensvereinbarungen (von 2016, zwischen der Regierung und der linksgerichtete FARC-Guerrilla, Anm. d. Ü.) halten und nun als Zivilisten auf dem Land arbeiten, das sie vor Jahren verlassen haben, um sich einem Krieg anzuschließen, den sie nicht mehr fortsetzen wollten. Berichten zufolge geht es um die unter den Aliasnamen El Iguano, Deivis, René, El Viejo und John Jairo bekannten Paramilitärs, die allesamt früher in der Guerrilla gekämpft haben und später zum Paramilitarismus übergewechselt sind. Sie versuchen nun andere ehemalige Kämpfer der FARC-EP, die jedoch das Friedensabkommen achten und das Kämpfen satthaben, dazu zu zwingen, sich dem Paramilitarismus anzuschließen. Gleichzeitig rekrutieren die Paras intensiv Minderjährige in der Gegend. Es heißt, dass einige dieser Paras, weil sie als FARC-Kämpfer demobilisiert wurden, von den Demobilisierungs-Vorteilen profitieren, obwohl sie insgeheim längst als Paramilitärs aktiv sind.
In der vierten Februarwoche 2022 wurde im Stadtzentrum von Apartadó ein Einwohner des Dorfes San José de Apartadó, das in der Nähe unserer Gemeinde liegt, von zwei in der Gegend bekannten Paramilitärs angesprochen. Der Mann wurde von den beiden gegen seinen Willen zu einem regionalen paramilitärischen Kommandeur gebracht, der ihn langwierigen Verhören über die Bewegungen und Aktivitäten der Anführer und der Friedensgemeinschaft unterzog. Später wurde er freigelassen, weil er keine Informationen offenbaren konnte, die für die Paras von Interesse waren.
Am Sonntag, den 27. Februar 2022, wurden im Haus von Familien unserer Gemeinde im Dorf Arenas Altas in der Gemeinde San José de Apartadó ein Sack Reis, ein Schlauch und andere Gegenstände und Lebensmittel gestohlen, als niemand im Haus war. Der Vorfall steht in einem besorgniserregenden Kontext, denn schon vorher hatten sich Paramilitärs den Höfen in der Absicht genähert, das Eigentum der Friedensgemeinschaft zu identifizieren. So erklärte das der Verwalter des Hofs, der dem Paramilitär El Viejo gehört. Es heißt, sie wollten in das Gemeinschaftseigentum in Arenas Altas eindringen.
Am 2. März 2022 wurde unsere Friedensgemeinschaft in den Morgenstunden auf die Anwesenheit einer Gruppe von Militärangehörigen aufmerksam, die sich auf unserem Land in La Roncona aufhielten. Unsere Gemeinschaft begab sich vor Ort und forderte höflich den Rückzug des Militärs. Einige Minuten später sammelten die Soldaten ihre Sachen ein, zogen ab und sagten, sie hätten nicht gewusst, dass das Grundstück unserer Friedensgemeinschaft gehörte. Allerdings ist das Land durch Schilder und Zäune deutlich als unser Eigentum ausgewiesen.
Am Donnerstag, den 3. März 2022 gegen 10 Uhr, betrat ein Militärkontingent, willkürlich das Haus von Arley Tuberquia, Mitglied des Internen Rates unserer Friedensgemeinschaft, der sich zu diesem Zeitpunkt nicht im Haus befand.
Das Militärkontingent, das im Dorf La Unión stationiert ist und angeblich das Entminungsbataillon Nr. 6 der Armee schützt, führt eine undurchsichtige und umstrittene humanitäre Entminung durch. Das Haus wurde von den Militärs widerrechtlich fotografiert. Sofort forderten die anwesenden Gemeindemitglieder die Soldaten auf, den Ort zu verlassen, das Haus nicht mehr zu fotografieren und die Aufnahmen zu löschen. Die Soldaten reagierten wütend und herrisch, bedrohten und beschimpften die Gemeinde und erklärten, sie würden zwar gehen, aber die Aufnahmen nicht löschen. Sie verließen langsam den Ort, aber nicht bevor sie Fotos von der Familie gemacht hatten. Bereits im Oktober 2021 war Tuberquia im Departement Boyacá eine Aktentasche mit wichtigen Dokumenten der Gemeinschaft abgenommen worden, ein Vorfall, der sich in die Liste der Angriffe einreiht, die verschiedene staatliche Institutionen gegen unseren Gemeinschaftsprozess unternehmen.
Am Donnerstag, den 25. März 2022 gegen 7 Uhr morgens, störte eine Gruppe von Angehörigen des Minenräumbataillons Nr. 6 der Armee die Gemeinschaftssiedlung im Friedensdorf Rigoberto Guzmán, Privatbesitz unserer Friedensgemeinschaft im Dorf La Unión.
In den letzten Wochen des März verbreiteten sich im Stadtzentrum von San José und in einigen Dörfern Gerüchte, dass die Paramilitärs planen, in die Friedensgemeinde einzudringen, und zwar sich als gewöhnliche Kriminelle ausgebend, sodass ihre Übergriffe nicht den Paramilitärs zugeschrieben würden. Auf diese Weise hätte die Justiz tausend Ausreden, um die Tat ungesühnt zu lassen, ohne die Paramilitärs auch nur zu erwähnen.
Rückschau auf ein Vierteljahrhundert
Am 23. März beging unsere Friedensgemeinschaft ihr 25-jähriges Bestehen. Am 23. März 1997 wurde in Anwesenheit und in Begleitung des Bischofs von Apartadó, Monsignore Tulio Duque Gutiérrez und von Mitgliedern des Europäischen Parlaments in der kleinen Schule von San José de Apartadó unsere „Öffentliche Erklärung der Friedensgemeinschaft“ verkündet. Ziel war es, dass der Staat und alle bewaffneten Akteure ihre Bemühungen einstellen, die Zivilbevölkerung in den Krieg zu verwickeln. Diese Strategie ist jedoch in den geheimen Instruktionen festgelegt, die der Staat seit den 1960er Jahren erstellt hat und die gegen alle internationalen Normen für bewaffnete Konflikte verstoßen.
Der Staat zog es vor, seinen kriminellen Weg zu gehen und bombardierte als Antwort auf unsere Erklärung 27 der 32 Dörfer von San José. Gleichzeitig bekamen die Paramilitärs den Befehl, alle noch bewohnten Dörfer aufzusuchen und die Bewohner darüber zu informieren, dass sie innerhalb von vier Tagen die Region verlassen müssen, wenn sie nicht sterben wollten.
Im vergangenen Vierteljahrhundert haben wir mindestens 307 außergerichtliche Hinrichtungen in unserem Gebiet gezählt. Davon fanden 53 im Vorfeld der Gründung unserer Gemeinschaft statt. Weitere 194 Menschen starben in den ersten 21 Jahren des friedlichen Widerstands, von denen 138 formelle Mitglieder unserer Gemeinschaft waren und 56 aus dem familiären und sozialen Umfeld stammten. Die FARC-EP hat in diesem Zeitraum 46 Bauern aus der Region getötet, darunter 18 Mitglieder unserer Gemeinschaft und 28 aus unserem sozialen Umfeld. Über die übrigen 14 haben wir wegen des Terrors und der Vertreibungen nur unsichere Informationen.
Aber abgesehen von den zerstörten Leben hat unsere Gemeinschaft alle Arten von Gewalt und Demütigung erlitten, mehr als 1500 Taten, die die Juristen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnen, da sie nicht nur ihre individuellen Opfer verletzen, sondern sich gegen die Menschheit als solche richten: gewaltsames Verschwindenlassen, Folter, Vertreibungen, wahllose bewaffnete Angriffe, Freiheitsberaubung, juristische Farcen, Zwangsumsiedlungen, Hungerbelagerungen, illegale Volkszählungen, Besetzung von Privatgrundstücken, Brandstiftung an Häusern und Ernten, Diebstahl und Zerstörung von Haustieren, Vieh und Lebensmitteln, sexueller Missbrauch, Leichenschändung, Verleumdung, Diffamierung, Stigmatisierung, Falschinformationen, Drohungen, Knebelung oder Versuche, Strafanzeigen durch verfassungswidrige juristische Schritte zu unterbinden.
Obwohl die Interamerikanische Kommission und der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte fast von Anfang auf Maßnahmen zu unserem Schutz gedrungen haben, sind Jahrzehnte vergangen, ohne dass der kolumbianische Staat ihren Anordnungen Folge geleistet hat. Auch das Verfassungsgericht wurde verhöhnt, indem drei seiner Urteile in der Sache und mehrere seiner Folgebeschlüsse missachtet wurden. Aber es scheint, dass sich das Gericht nicht um die Missachtung seiner eigenen Sprüche kümmert, was das schreckliche Chaos erklärt, das Kolumbien erlebt. Der Internationale Strafgerichtshof eröffnete 2006 die Akte über unsere Friedensgemeinschaft. Wir sind sicher, dass alle 1500 angezeigten Verbrechen die vom Römischen Statut geforderte Systematik und Schwere aufweisen (Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ist die vertragliche Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofs mit Sitz in Den Haag, Anm. d. Ü.) und dass die mehr als 90 Dokumente, die wir den Staatschefs geschickt haben, die Verwicklung derjenigen aufzeigen, die nach unserer Verfassung für diese Verbrechen die Verantwortung tragen. Nun heißt es, dass diese Taten im Rahmen der Sondergerichtsbarkeit, die das Friedensabkommen von 2016 vorsieht, behandelt werden sollen. Das ist jedoch falsch, weil das Friedensabkommen Strafnachlass nur für jene Täter vorsieht, die gestehen und damit zur Aufklärung konkreter Verbrechen während des bewaffneten Konfliktes beitragen wollen. Worum es bei uns jedoch geht: Die Angriffe eines Bewaffneten gegen einen Unbewaffneten können unmöglich als Kampfhandlung des bewaffneten Konfliktes betrachtet werden – es sei denn aufgrund von schweren Manipulationen und üblen Absichten.
Wir haben 25 Jahre lang durchgehalten, wir werden bedroht, wir haben die bittere Erfahrung der Vernichtungsmethoden gemacht, die der Staat in dieser Zeit gegen uns angewandt hat: die physische Ausrottung durch Ermordung; die ideologische Stigmatisierung, bei der uns selbst der Präsident Kolumbiens als „Guerilla-Hilfstruppen“ bezeichnete; die Herabwürdigung durch die Medien, sowohl Presse, Fernsehen als auch Radio; die biologische Ausrottung durch Hungerbelagerungen, die juristische Kriminalisierung, die Feldzüge des Justizapparats mit falschen Beweisen und falschen Zeugen; die soziale Ausgrenzung, bei der der Gemeinschaft auch geringste Haushaltsmittel verweigert werden, auf die sie aufgrund ihres Steuer-Beitrags Anspruch hat; das Angebot geringfügiger Zahlungen an die Angehörigen von Verbrechensopfern, damit sie auf juristische Schritte verzichten.
Unser Festtag
Unser 25. Jahrestag war eine schlichte, eintägige Feier. Wir wurden von fünf Delegierten der diplomatischen Dienste in Kolumbien begleitet: Deutschland, Österreich, Belgien, Kanada und Schweden. Als sie ankamen, schlossen sie sich einem Marsch an, der von La Roncona ausging, von dem unsere Gemeinschaft in den letzten zwei Jahrzehnten einen großen Teil ihrer Nahrungsmittel gewonnen hat und das man uns nun mit absurden Interpretationen des Landgesetzes wegnehmen will. Dort erfreuten uns die Delegierten der Botschaften mit einer schönen Geste der Solidarität, indem sie einige Obst-Bäume pflanzten. Dann wurde an dem Ort der Tragödie, an dem Paramilitärs aus dem Ortsteil San José mit Waffen eintrafen, um am 29. Dezember 2017 den Rechtsvertreter der Gemeinschaft und andere Mitglieder des Internen Rates zu ermorden, die Einleitung der vor 25 Jahren verkündeten Erklärung verlesen. Anschließend wurden im zentralen Gebäude von San Josecito einige Ausstellungen über unsere Geschichte und unsere Probleme gezeigt. Wir haben Botschaften von zahlreichen Gemeinden gehört, die das Ereignis von weit her verfolgten. Die 25 Geburtstagskuchen waren schnell aufgegessen, und wir haben das Fest ausführlich fotografisch dokumentiert.
Theater- und Musikgruppen und alte Freunde begleiteten uns an einem Tag, der Teil des Gedenkens an dieses Lebens- und Widerstandsprojekt ist. Wir haben nicht die Absicht aufzugeben, selbst unter Einsatz des Lebens. Wir harren aus, weil wir davon überzeugt sind, dass jede andere Alternative eine Preisgabe von Prinzipien bedeutet, die uns ihre Gültigkeit und ihre Wahrhaftigkeit bewiesen haben.
Mit erneuter Dankbarkeit, nachdem wir auf unsere Geschichte zurückgeblickt haben, grüßen wir all diejenigen, die uns aus den entferntesten Winkeln Kolumbiens und der Welt begleitet, ermutigt und unterstützt haben, ohne uns zögern zu lassen.
San José de Apartadó, 1. April 2022