Die Regierung will angeblich etwas ändern, dennoch sind die Paramilitärs außer Kontrolle

Einmal mehr erheben wir unsere Stimme, um auf die Tatsachen aufmerksam zu machen, die unsere Friedensgemeinde und die Bevölkerung unseres geografischen und sozialen Umfelds ständig bedrohen.
Wir befinden uns gefangen in einer Welt, in der nur die Macht gilt. Die will ihre Ziele erreichen, und da spielt es keine Rolle, wer unter ihr leidet.

Die Regierung in Bogotá sagt, es gelinge ihr, mit den illegalen bewaffneten Gruppen zu verhandeln und so das Leben der Zivilbevölkerung in den Dörfern und Weilern des Landes zu sichern. Aber das sind nur Nachrichten in den Medien. In der Realität hat sich für die Bauern des Landes nichts geändert, denn in den Gebieten, die von den legalen oder illegalen bewaffneten Akteuren kontrolliert werden, ist das Leben noch schwieriger geworden. Auch in Gebieten wie San José de Apartadó kontrolliert und bestimmt der Paramilitarismus, wie sich die Bauern bewegen dürfen und arbeiten müssen.

In Urabá ist die Regierung des Wandels noch nicht angekommen, geschweige denn, dass sie die 17. Heeresbrigade selbst gründlich überprüft und gesäubert hätte, denn innerhalb dieser Brigade und der ihr unterstellten Einheiten herrscht ein hohes Maß an Komplizenschaft mit dem Paramilitarismus, wie die Ereignisse vom 12. September 2023 zeigen, als Soldaten und vermummte Paramilitärs gemeinsam die Zivilbevölkerung von Urabá einschüchterten.

Auch in den Dörfern von San José de Apartadó gibt es eine hohe Präsenz von Paramilitärs, die sich offen mit Uniformen und AGC-Abzeichen bewegen, schwer bewaffnet sind und sich unter dem vollen Schutz des Militärs und der Justiz bewegen.

(Anm. d. Ü.: AGC steht für Autodefensas Gaitanistas de Colombia, auch Clan del Golfo, Clan Úsuga oder Los Urabeños genannt. Die Gruppe gilt als das mächtigste Verbrechersyndikat Kolumbiens. Aus rechtsgerichteten Paramilitärs nach der Demobilisierung hervorgegangen, arbeitet die Gruppe mit dem mexikanischen Sinaloa-Kartell zusammen und ist gegenwärtig für die Hälfte des kolumbianischen Kokain-Exports verantwortlich. Der Golf-Clan benutzt als operative Basis die schwer zugängliche nordwestkolumbianische Subregion Urabá – daher auch der Name „Los Urabeños“. Die Bande ist vor allem in den Drogenschmuggel, illegalen Bergbau und der Schutzgelderpressung verwickelt. Zudem sind sie für zahlreiche Morde und Vertreibungen verantwortlich. Anfang 2023 schloss die Regierung unter Präsident Gustavo Petro einen Waffenstillstand mit dem Clan del Golfo, den sie nach kurzer Zeit am 19. März 2023 wieder kündigte. Grund war laut Petro ein Angriff auf Polizeikräfte durch den Clan.)

Das Schlimmste ist, dass die Paras die Zivilbevölkerung kontrollieren und zwingen, sie in ihren Dörfern und auf ihren Privatgrundstücken zu akzeptieren. Niemand kann etwas sagen oder anprangern aus Angst, getötet oder aus der Region vertrieben zu werden, wie es einigen Einwohnern ergangen ist, die weit weggehen mussten, um nicht getötet zu werden.

Hier die Ereignisse der letzten Wochen:

Am Sonntag, den 24. September, wurde in den Morgenstunden im Dorf Mulatos Medio ein Trupp Paramilitärs gesehen, der sich entlang des Flusses bewegte. Nach Angaben der Dorfbewohner waren die Männer schwer bewaffnet, getarnt und trugen Armbinden mit dem Abzeichen AGC.
Am selben Tag erfuhr unsere Friedensgemeinde, dass das paramilitärische Kommando in der Region von den Dörfern Resbalosa zum Dorf Frasquillo in der Gemeinde Tierralta Córdoba gewechselt hat. Gerüchteweise heißt es, das neue Kommando habe die Ermordung von Menschen ankündigt, um alle, die sich ihren Plänen nicht unterwerfen, aus der Gegend zu vertreiben.

Am Montag, den 25. September, erfuhr unsere Friedensgemeinde von einer Morddrohung gegen einen Bewohner des Dorfes San José de Apartadó durch die Paramilitärs, die dieses Gebiet kontrollieren. Um sein Leben zu schützen, zog es dieser Bewohner vor, aus dem Gebiet zu fliehen.

Am Dienstag, den 26. September, wurden gegen 20 Uhr Hubschrauberüberflüge in den Dörfern Resbalosa und Mulatos registriert.

Am Samstag, den 7. Oktober, wurde eine starke paramilitärische Präsenz an der Schule von Resbalosa festgestellt. Am selben Tag betraten einige der Paramilitärs unbefugt ein Privatgrundstück, das der Friedensgemeinde gehört.
Am selben Tag wurden wir vor der starken Präsenz einer Gruppe schwer bewaffneter Paramilitärs gewarnt, die auf einem Grundstück im Weiler Mulatos im Bezirk San José de Apartadó lagerten.

Am Samstag, den 4. November, wurde eine starke Präsenz von Paramilitärs in Uniform und mit Langwaffen beobachtet, die sich durch das Dorf Resbalosa bewegten und dann in Richtung Mulatos gingen.

Am Sonntag, den 5. November, wurde erneut eine starke Präsenz schwer bewaffneter Paramilitärs zwischen Mulatos und Resbalosa festgestellt. (….)

Am Dienstag, den 7. November, drangen zwei Paramilitärs in eines der Grundstücke ein, das der Friedensgemeinde gehört. (…)
Am selben Tag wurden in den Abendstunden in der Gegend von Baltazar, einem Ort östlich des Dorfes La Resbalosa, mehrere Schüsse aus Langwaffen abgefeuert. Die Motive oder das Schicksal der Zivilbevölkerung waren zunächst unbekannt.

Am Mittwoch, den 8. November, erfuhren wir, dass die Paramilitärs einem Bewohner eines der Dörfer von San José de Apartadó gedroht hatten, ihn zu töten, sollte er in das Dorf zurückkehren, in dem er seit langem lebt.
Am selben Tag riefen die Paramilitärs die Bewohner des Dorfes Resbalosa zu einer Versammlung in der Schule auf. Den Informationen zufolge kamen die paramilitärischen Kommandanten, die die Versammlung leiteten, aus dem Dorf Nuevo Antioquia in der Gemeinde Turbo. Bei dieser Versammlung unterstrichen sie die von ihnen auferlegten Verhaltensvorschriften für die Bewohner. Jeder, der sich nicht daranhalte, müsse das Dorf verlassen oder sterben.
Ebenfalls an diesem Mittwoch bemerkten wir abends Armeeangehörige, die sich Motorrädern in Richtung San José de Apartadó bewegte. Anscheinend führen sie diese Art von Ausfällen spät in der Nacht durch. Worum es dabei geht, ist unklar. Aber es ist sehr verdächtig, wenn man bedenkt, dass der Sektor eigentlich von den Paramilitärs kontrolliert wird.

Am Donnerstag, den 9. November, brach in den Morgenstunden ein Paramilitär mit zwei Funkgeräten und einem Mobiltelefon in unser Privatgrundstück La Cabaña im Dorf La Resbalosa ein. Die internationale Begleitung unserer Gemeinde, die dort präsent ist, forderte den Eindringling sofort auf, das Gelände zu verlassen. Dieser Paramilitär widersetzte sich und zog erst einige Zeit später mit Gesten ab, die besagten, dass ihn das alles nichts angehe.

Am Freitag, den 10. November, wurde unsere Friedensgemeinde auf die Anwesenheit einer Gruppe von getarnten und schwer bewaffneten Paramilitärs an einem Ort aufmerksam, der als Pulgarín-Schlucht im Weiler Mulatos Medio von San José de Apartadó bekannt ist. Am selben Tag bemerkten wir morgens die Anwesenheit einer Gruppe von Soldaten, die illegal unser Privatgrundstück La Holandecita betreten hatten, auf dem sich unsere Siedlung San Josesito befindet.

Am Samstag, den 11. November, teilte uns ein Bewohner des Dorfes San José mit, dass die Paramilitärs mehreren Landwirten in einigen Dörfern von San José de Apartadó und Tierralta Córdoba ihre Bauernhöfe weggenommen haben. Die Paras hatten befohlen, die Bauern dürften keine Flächen für den Anbau von Grundnahrungsmitteln roden, und daran hatten sich die Bauern nicht gehalten. (…)

Am Dienstag, den 14. November, erfuhr unsere Gemeinschaft vom Tod eines Zivilisten in Murmullo, Tierralta, der unter dem Namen „El Paisa“ bekannt war. Paramilitärs hatten mehrere Kugeln auf ihn abgegeben.

Am Freitag, den 17. November, drangen gegen 16 Uhr fünf berittene Paramilitärs auf unser Privatgrundstück La Cabaña in der Ortschaft La Resbalosa ein, wo am 21. Februar 2005 das Massaker von Paramilitärs und der nationalen Armee verübt wurde. Die fünf Männer waren bewaffnet und hatten Funkgeräte dabei.

Am Montag, den 20. November, wurde unsere Gemeinde von einem Mann angerufen, der sich als Mitglied des Bauunternehmens Cooperativa de Trabajo Asociado Policonstructores vorstellte und sagte, dass er eine Lizenz für die Ausbeutung von Baumaterial aus dem Apartadó-Fluss besitze. Wenn sich die Gemeinde nicht mit ihm an einen Tisch setze, werde ein anderes Unternehmen kommen und die Dinge in die Hand nehmen. Unserer Ansicht nach ist das Ökosystem durch eine derartige Ausbeutung gefährdet.

Am Mittwoch, den 22. November, wurde gegen Mittag ein junger Mann in der Nähe des Weilers La Balsa an der Straße von San José nach Apartado von zwei Männern erschossen. Dies geschah, während wenige Minuten später eine Polizeikontrolle an der Ausfahrt von Apartadó nach San José eingerichtet wurde. Wie konnte es sein, dass die Paramilitärs zur gleichen Zeit zu der eine Polizeikontrolle eingerichtet wurde, einen neuen Mord begingen? Wie auch immer, klar ist, dass die Paramilitärs alles unter Kontrolle haben.
In den vergangenen Wochen haben die Paramilitärs ihre Regeln und Befehle angepasst und genauer gefasst. Sie haben den Händlern in San José de Apartadó eine illegale Kriegssteuer auferlegt, sie haben dem Fleischhandel genaue Anweisungen gegeben, sie überwachen und kontrollieren ihn ständig, und wer versucht, die Unterordnung zu brechen, muss die Konsequenzen tragen. Diese kriminellen Praktiken und die paramilitärische Kontrolle über den Handel und andere Aktivitäten in San José de Apartadó finden trotz einer starken Militär- und Polizeipräsenz statt, die jedoch angesichts der unkontrollierten Paramilitärs und einer Regierung, die angeblich den Wandel herbeiführen will, absolut nichts unternehmen.

Auch anderswo sind Menschen ist mörderischen menschlichen Maschinen ausgeliefert. In Israel werden Hunderte von wehrlosen Menschen getötet – aber gleichzeitig hat das, was in Gaza geschieht, längst die Grenzen zur Grausamkeit überschritten. Genug von dieser Barbarei, genug ist genug.

Unsere Friedensgemeinde verurteilt offen jede Aktion, die sich gegen das Leben oder die Unversehrtheit eines Menschen richtet, und gleichzeitig bekräftigen wir unsere ethischen und moralischen Grundsätze, um inmitten des Todes weiterhin Räume des Lebens zu schaffen.

Wir danken allen, die uns moralisch unterstützen, wo auch immer auf der Erde sie seien.

Friedensgemeinde San José de Apartadó,
30. November 2023