Die Verschleierung des Mordens in Zeiten der Pandemie

CdP de San José de Apartadó – Bericht vom 22.6.2020
Eingesandt von cdpsanjose el Jue, Übersetzung 8.7.2020/bfk/wk

Unsere Friedensgemeinde San José de Apartadó wendet sich erneut an die Öffentlichkeit, um die neuen Ereignisse bekanntzumachen, die die verbrecherische Politik des kolumbianischen Staates und dessen Nachsicht und insgeheimes Einverständnis mit den kriminellen Vorgängen enthüllen, die in der Vergangenheit wurzeln.

Aufrechte, unbequeme und/oder schutzbedürftige Kolumbianer werden schon seit Jahrzehnten getötet. Die kolumbianischen Streitkräfte sind seit langem der Ansicht, dass sie die Lizenz zum Töten haben, wobei sie sich darauf berufen, dass die Opfer die Feinde der politischen Kräfte sind, die gerade an der Macht sind. Im Laufe der Zeit haben die Vereinigten Staaten den kolumbianischen Regierungen heimlich gezeigt, wie man die Zivilbevölkerung in den Krieg verwickeln kann. Und zwar nicht nur als militärische Ziele – das waren die Armen und die Unbequemen ja seit eh und je -, sondern ebenfalls als Kombattanten, also als Paramilitärs oder geheime, bewaffnete Hilfstruppen des Staates.

So war das schon 1962 bei der Kolumbien-Mission von US-General William Yarborough. Dessen geheime Direktiven zielten darauf ab, dass dem Staat und seinem Ansehen nicht die Last des moralischen Verfalls und der Illegitimität aufgebürdet würde, was zu weltweiter Verurteilung geführt hätte (Zur Erklärung siehe Anmerkung der Übersetzer am Schluss). Als der Paramilitarismus ins Blickfeld einiger Richter geriet, bemühte sich der Staat darum, ihn aus der öffentlichen Debatte zu verbannen, indem die Abkürzung „Bacrim“ – für „bandas criminales“, kriminelle Vereinigungen – geprägt wurde. Damit sollte der Gesellschaft vorgegaukelt werden, es handele sich nur um gewöhnliche Kriminalität.

Als man aufgrund der Friedensverträge von 2016 aufhörte, alle Opfer von Hinrichtungen und Verschwindenlassen pauschal als Guerilleros zu bezeichnen, begann man die Ermordung der „zu entsorgenden“ Führungsfiguren sozialer und unbequemer Bewegungen ganz anders darzustellen: Als die Folge von Gewalt in den Familien, von Grenzstreitigkeiten zwischen Nachbarn, von Prügeleien unter Betrunkenen und sogar von Schlangenbissen. Und im Allgemeinen haben sich diese vorgeschobenen Begründungen behauptet – entgegen dem Wissen der Bevölkerung, die jedoch aus Angst vor Ermordung oder Stigmatisierung schweigt.

Die Morde, die dem unsere Gegend von San José de Apartadó beherrschende Paramilitarismus zuzuschreiben sind, werden neuerdings getarnt, obwohl die Landbevölkerung der Gegend die Wahrheit kennt. In ganz San José war das Schweigen mit Händen zu greifen, das die Ermordung von Rafael Antonio Guerra am 12. Mai in Caño Seco, einem Ortsteil des Dorfes Alto Bonito, umgab. Angaben der Einwohnerschaft zufolge musste die Familie von Rafael das Verbrechen als Todesfall infolge eines Schlangenbisses ausgeben, weil sonst die Erlaubnis nicht erteilt worden wäre, den Sarg durch das Zentrum von San José zu tragen.

Die jüngste Ermordung, geschehen am 7. Juni, wird von vielen Einwohnern als die tödliche Folge von „sonntäglichen Besäufnissen“ oder „Prügeleien zwischen Kollegen“ oder gar von Konflikten unter den Paramilitärs gelesen. Die Medien melden weder etwas über die juristischen Schritte, die in solchen Fällen unternommen werden, noch erwähnen sie, dass die Gegend voll und ganz von paramilitärischen Strukturen durchzogen ist. Anstatt zur Klärung der Ereignisse beizutragen, haben die Medien, egal ob lokal oder regional, stets bei der Verschleierung mitgewirkt, die den Interessen des herrschenden politischen Spektrums dient. Manchmal macht es die Wahrung dieser Interessen nötig, sogar die eigenen paramilitärischen Handlanger zu eliminieren – dann nämlich, wenn die ihrer Mörder-Jobs überdrüssig werden und den Wunsch äußern, sich aus ihren kriminellen Verstrickungen zu lösen. Auch Streit unter den Paramilitärs über die Einkünfte, etwa aus dem Drogenhandel, endet immer wieder tödlich. Darstellungen der neuesten Todesfälle weisen jedenfalls in diese Richtungen.

Folgende Ereignisse aus den vergangenen Wochen möchten wir zur Kenntnis geben:

Sonntag, 10. Mai:
Aus Anlass des Muttertags erlauben und fördern die Paramilitärs eine Feier im Dorf La Unión, bei der unter Missachtung der Pandemie-Vorsichtsmaßnahmen viel Schnaps getrunken wird.

Samstag, 16. Mai:
Ein gleiches Ereignis wiederholt sich im Dorf La Resbaldosa.

Donnerstag, 4. Juni:
Auf der Finca von Señor Muñoz, in der Gemarkung La Esperanza, tauchen erneut uniformierte Paramilitärs mit Gewehren auf. Unsere Gemeinde hatte bereits früher mehrmals am selben Ort eine Gruppe Paramilitärs fotografiert und gefilmt – Bildmaterial, das die Mitglieder des kolumbianischen Senats ansehen und untersuchen konnten. Daraufhin ist allerdings in keiner Weise gegen die Paramilitärs vorgegangen worden, geschweige denn dass man ihnen den Prozess gemacht oder sie verurteilt hätte. Im Gegenteil: Nachdem die Vorfälle dem Senat vorgelegt wurden, haben wir dieselben bewaffneten und uniformierten Leute erneut und mehrfach auf derselben Finca beobachten müssen, ohne dass irgendeine staatliche Institution auch nur das Geringste unternommen hätte, gegen sie vorzugehen.

Freitag, 5. Juni:
Im Ort Playa Larga kommen mindestens 50 Paramilitärs zusammen. Bei dem Treffen wird die Notwendigkeit betont, die Bevölkerung in der Nähe von San José de Apartadó stärker zu kontrollieren. Dort lebten Leute, die man eliminieren müsse.

Samstag, 6. Juli:
Soldaten der 17. Heeresbrigade kamen nach La Unión, drangen in ein öffentliches Gebäude ein und tranken Schnaps. Von den Einwohnern befragt, warum die Armee nicht den Paramilitärs nachstelle, antwortete der Kommandant, das würden sie nicht tun, weil sich die Paramilitärs an den Soldaten rächen würden, wenn diese außer Dienst seien. Der Offizier sagte außerdem, vom 15. Juni an sei er der Befehlshaber der Militärbasis San José.

Sonntag, 7. Juni:
Gegen 20 Uhr wurde Jesús Alberto Muñoz Yepes von einer Gruppe Paramilitärs im zu San José gehörenden Weiler La Victoria ermordet. Jesús Alberto, der El Tato genannt wurde, war 35 Jahre alt und lebte im Viertel Policarpa de Apartadó. Bei dem Mord wurde eine junge, schwangere Frau namens Leidy verletzt, die das Opfer begleitete. Leidy ist die Kusine von Yeminson Borja Jaramillo, der am 7. Juli vergangenen Jahres im Dorf La Balsa von Paramilitärs ermordet wurde. In La Balsa kontrollieren die Paras die Straßenverbindung, sie haben sich die Bevölkerung mittels Drohungen und Morden unterworfen. – Über die Beweggründe des Mordes zirkulieren allerlei Gerüchte, wonach das Opfer ein aktiver Para war, der sich jedoch absetzen wollte und dafür mit dem Tode bestraft wurde. Das nachlässige und komplizenhafte Schweigen der Behörden, begleitet vom angsterfüllten Schweigen der Bevölkerung, stellt die gespenstischen Mechanismen der völligen, allgemeinen Straflosigkeit unter Beweis.

Freitag, 12. Juni:
Die Paramilitärs rufen im Dorf Mulatos Medio die Juntas de Acción Comunal (Anm. d. Ü: eine Art Bürgervertretung auf lokaler Ebene) in einem Schulhaus zusammen, das erst kürzlich auf der Grenze zu unserem Friedensdorf gebaut wurde. An der Versammlung nahm ein Para-Politiker teil, der der Bevölkerung Verhaltensvorschriften machte. Genau das hatten wir geahnt, als die Schule in Bau war, nämlich dass das Gebäude für politische Zwecke, für Feste und Alkoholexzesse missbraucht werden würde, um damit die Prinzipien unserer Friedensgemeinde zu sabotieren und unseren Grund und Boden für diese Zusammenkünfte zu benutzen.

Sonntag, 14. Juni:
Die Junta de Acción Comunal von Arenas Altas veranstaltet in der Dorfschule, die auf dem Gelände unserer Friedensgemeinde steht, ein Fest mit Alkoholgenuss. Dabei werden die geltenden Abstandsregeln missachtet, was in Streit mit Verletzten ausartet. Einer der Organisatoren ist der Paramilitär John Edinson Gómez, genannt El Pollo.

Mittwoch, 17. Juni:
Ausgehend von den Kontrollen zur Eindämmung des Corona-Virus an der Stadtgrenze von San José de Apartadó, wird neuerdings versucht, die Bewegungsfreiheit der Mitglieder unserer Friedensgemeinde einzuschränken. Dabei wird uns unterstellt, dass die Menschen, die von außen zu uns kommen, das Virus einschleppen könnten, womit wir schuldig wären, wenn Infektionsfälle aufträten.

Wir weisen solche Unterstellungen energisch zurück. Zu verhindern, dass sich die Bevölkerung ansteckt, fällt nicht in unseren Verantwortungsbereich, zumal praktisch alle Bewohner der Gegend täglich in die Stadt fahren, ohne dabei irgendwelche Schutzmaßnahmen zu ergreifen. In Wahrheit sind es die Paramilitärs, die Polizei und die Armee, die das größte Ansteckungsrisiko für die Bevölkerung darstellen, weil sie es sind, die in der Region Patrouille fahren und sich an öffentlichen Orten aufhalten, wo sie Alkohol trinken. Dabei sind wir, denen nun die Schuld zugeschoben werden soll, die einzigen weit und breit, die die Quarantäne auf eigene Initiative hin bestens organisiert haben. Wenn Covid-19 also in der Gegend auftritt, so sind es nicht unsere Besucher aus dem In- und Ausland, die daran Schuld tragen, sondern die eigentlich zuständigen Behörden, weil sie keine einzige Vorsichtsmaßnahme ergriffen haben, um zu verhindern, dass in der Großraum Urabá die Zahl der Angesteckten täglich steigt.

Im Übrigen stellen wir immer wieder fest, dass die Paramilitärs die Bevölkerung unter Kontrolle halten, indem sie sich bestimmter Personen oder ganzer Familien bedienen, „puntos“ (Punkte) genannte Spione, die die Para-Chefs ständig von den Bewegungen der Bevölkerung und deren Stimmungen und Meinungen in Kenntnis setzen.

Gleichzeitig bewegen sich die oberen Para-Ränge mit ihren Waffen frei in der ganzen Gegend. Mit Hilfe dieser „puntos“ machen sie der Bevölkerung Vorschriften, berufen sie zu Zusammenkünften ein, kassieren illegale Steuern und bedrohen sie mit dem Tod, wenn sie sich nicht fügt.

Keine einzige staatliche Stelle hat versucht, diese kriminelle Struktur unter Kontrolle zu bringen, obwohl sie hinter den Todesdrohungen und den Morden steckt, die neuerdings durch erfundene Begründungen verschleiert werden. Erneut danken wir den Einzelpersonen und Organisationen in Kolumbien und im Ausland, die unseren Werdegang verfolgen und uns moralischen Beistand bei der Verteidigung unserer Prinzipien leisten.