Die Wellen des Terrors, die unser Land stets von neuem überfluten

Erneut wendet sich unsere Friedensgemeinde an die nationale und internationale Gemeinschaft, um die jüngsten Ereignisse, die das Leben der Bevölkerung in unserem geografischen und sozialen Umfeld und die Existenz unserer Friedensgemeinschaft bedrohen, zu Protokoll zu geben.

Wir befinden uns in einer Zeit großer Unsicherheit im Land, da verschiedene Friedensprozesse mit verschiedenen illegalen bewaffneten Gruppen angekündigt wurden (Anm. d. Ü.: Zur Politik des totalen Friedens siehe Anmerkung weiter unten). Aber es ist klar, dass keine Fortschritte gemacht werden, da die Unterdrückung der Bevölkerung durch diese Gruppen immer stärker wird. Bei uns jedenfalls gibt es keine Anzeichen für eine Änderung der Politik des paramilitärischen Terrors, der über Jahre hinweg eindeutig im Schutz der Sicherheitskräfte und den verschiedenen staatlichen Institutionen ausgeübt wurde.

In den Dörfern der Gemeinde San José müssen wir weiterhin die Präsenz der Paramilitärs hinnehmen, ohne dass sie von irgendjemandem gestört werden. Es ist sehr deutlich zu beobachten, wie in diesen mehr als sieben Monaten der Regierung von Gustavo Petro immer noch nichts getan wird, um zu verhindern, dass die Bevölkerung unter der Kontrolle der Paramilitärs steht.

In letzter Zeit haben die Behörden eher Scheinoperationen in die Wege geleitet, die Situation, die wir erleiden, entweder irgendwie zu legalisieren oder zu bemänteln. In einigen Fällen, in denen es zu Festnahmen in der Stadt San José gekommen ist, haben sie in den sozialen Netzwerken Werbung gemacht und die Öffentlichkeit mit der Behauptung getäuscht, sie würden den Drogenhandel oder paramilitärische Strukturen zerschlagen. In Wirklichkeit haben sie unter irgendeinem Vorwand echte Paramilitärs gefangen genommen, die am nächsten Tag wieder freigelassen werden und in vielen Fällen in die Gegend zurückkehren, um weiter mit Drogen zu handeln und mit Terror gegen die Bevölkerung vorzugehen.

Es ist klar, dass der Neubau von Straßen auf dem Gebiet von  San José de Apartadó keine Initiative der Regierung selbst war, sondern von großen Unternehmen, die versuchen, die Zivilbevölkerung durch Paramilitärs zu kontrollieren, um ungestört die Bergbauvorkommen zu erschließen und auszubeuten. Sieben Abbau-Lizenzen haben sie sich bereits gesichert, mehr als ein halbes Dutzend weitere sind beantragt. (Anm. d. Ü.: Der Blog erwähnt leider nicht, auf welche Vorkommen sich die Bergbaulizenzen beziehen. Jedoch gehört das Departamento Antioquia, in dem San José liegt, laut Regierungsangaben zu den Hauptfördergebieten von Gold. Ähnliches gilt für Kohle, siehe weiter unten)

Die Ereignisse der letzten Zeit sind die folgenden:

Am Samstag, 11. Februar, berichteten die regionalen Medien, dass drei Bürger in der Ortschaft San José de Apartadó wegen Drogenhandels verhaftet worden seien. Diese jungen Leute wurden wenige Minuten nach der Meldung der Medien wieder freigelassen.

Am Mittwoch, 22. Februar, als eine Kommission unserer Friedensgemeinde von der Gedenkfeier zum 18. Jahrestag des Massakers an den Mulatos und Resbalosa in Richtung der Siedlung San Josesito zurückkehrte, wurden sie mehrere Minuten lang von vier Paramilitärs in dem als La Sucia bekannten Ort in der Nähe von San José verfolgt. Dort befinden sich ein Polizeiquartier und ein Militärstützpunkt.

Am Freitag, 3. März, wurde unsere Gemeinde erneut über einen Plan einiger Bewohner der Region und von bekannten Paramilitärs informiert, in unsere Ländereien einzudringen.

Am Sonntag, 5. März, traten mehrere Bewohner von San José de Apartadó an uns heran, um ihre Besorgnis über die Ankündigungen der Landrückgabeeinheit URT zum Ausdruck zu bringen, die ihnen in den kommenden Tagen ihre Grundstücke wegnehmen und sie an Landanwärter übergeben wolle (Anm. d. Ü.: Diese Behörden, Unidad de Restitución de Tierras – URT – wurden 2012 im Zuge des Friedensprozesses mit der Farc-Guerilla  ins Leben gerufen; sie sollen den Opfern des Konflikts, die von ihrem Land vertrieben oder enteignet wurden, zu ihren alten Rechten verhelfen). Es ist unerhört, dass in Prozessen, an denen Geschäftsleute, Politiker, Ölpalmen-Produzenten und andere reiche Sektoren der Region beteiligt sind, die mit dem Paramilitarismus verbündet sind und viel Blutvergießen verursachen, die Landrückgabe nicht vorankommt. In dem Bestreben, vorzeigbare Ergebnisse bei der Landrückgabe zu erzielen, bearbeitet die URT Fälle, bei denen es sich um einfache Bauern handelt, die unter den Schrecken der Gewalt gelitten und überlebt haben und die dann kleine Grundstücke aus den Händen anderer leidender Einwohner frei erworben haben. Nun will man ihnen dieses Land wegnehmen, was zu neuer Enteignung und Vertreibung führt, bloß dass die Täter in diesem Fall staatliche Institutionen wie die URT sind, die gegen die Bauern vorgehen und sie erneut zu Opfern machen, wie sich bereits in einigen anderen Fällen in der Region gezeigt hat. (…)

Am Mittwoch, 8. März, wurde unsere Friedensgemeinde auf die Anschuldigungen eines ehemaligen Paramilitärs namens Cristián hingewiesen, der im Dorf San José das Kommando hatte. Er behauptet, dass die meisten Einwohner des Dorfes eng mit den paramilitärischen Gruppen zusammenarbeiten und dass dies kein Geheimnis sei.

Am Freitag, 10. März, kam es gegen 22 Uhr in La Unión nahe dem Dorfzentrum zu einem etwa zehn Minuten langen Schusswechsel, offenbar von Angehörigen der 17. Heeresbrigade, die im Dorf anwesend waren. Mehrere Bewohner des Dorfes gaben an, dass die Schüsse ihnen Angst machten und sie in Gefahr brachten, da die Kugeln in Richtung des Dorfes gerichtet waren. Die Hintergründe des Schusswechsels sind unbekannt.

Am Samstag, 11. März, wurde ein Mitglied unserer Friedensgemeinde an einem Kontrollpunkt des Heeres zwischen unserer Siedlung San Josesito und dem Zentrum von San José de Apartadó abgefangen, beschimpft und gezwungen, aus dem Fahrzeug auszusteigen, mit dem er zu seiner Arbeitsstelle fuhr, angeblich um es zu durchsuchen.

Am Montag, 13. März, traten einige Verantwortliche der Junta de Acción Comunal des Dorfes La Esperanza an Mitglieder unserer Gemeinschaft heran, um anzukündigen, dass sie eine Straße auf dem Grundstück von Las Delicias, einem Privatgrundstück unserer Friedensgemeinde, roden würden (Anm. d. Ü.: Die Juntas de Acción Comunal sind lokale Mitbestimmungsgremien, die die Verfassung Kolumbiens vorsieht. In der Praxis sind diese Ortsbeiräte allerdings oft von den jeweils örtlich Mächtigen kooptiert.)

Am Mittwoch, 15. März, hat eine Gruppe von Bewohnern des Dorfes La Esperanza, die der Junta de Acción Comunal angehören, den Zaun des Landgutes Las Delicias, das sich in diesem Dorf befindet, angegriffen und entfernt. Die Eindringlinge erklärten, dass sie die Straße bauen, weil es ihr Recht sei, ohne sich darum zu kümmern, dass sie das Privateigentum unserer Gemeinde verletzen. Sie beschuldigten uns, Guerilleros zu sein.

Am Donnerstag, 16. März, wurden in der Ortschaft Buenos Aires fünf Paramilitärs gesehen, von denen einer eine Langwaffe trug.

Am Freitag, 17. März, gegen 11 Uhr, wurden mehrere Mitglieder unserer Friedensgemeinde im Dorf La Esperanza von Herrn Daney Tuberquia in Anwesenheit von internationalen Begleitern angesprochen, die verärgert behaupteten, dass wir mit unserer Weigerung, dem Bau einer Straße durch unser Grundstück zuzustimmen, ihre Rechte verletzten. Offenbar hat der Versuch, diese Straße zu bauen, keine rechtliche Grundlage, weil sie nicht einmal im entsprechenden Raumordnungsplan vorgesehen ist und weil sie außerdem das verfassungsgemäße Eigentumsrecht verletzen würde. Herr Daney wurde daran erinnert, dass es sich bei dieser Straße um ein Projekt handelt, das seit mehreren Jahren von den Paramilitärs gefördert, finanziert und koordiniert wird und dass in den letzten Monaten das Bürgermeisteramt von Apartadó und die Heeresbrigade an diesem von den Paramilitärs geförderten Projekt mitgearbeitet haben. Angesichts dieser Unverschämtheit wollen sie uns auch noch zwingen, dieses Straßenprojekt, ohne unsere Zustimmung zu bauen, das nur dem Kohleabbau im Abibe-Gebirge dient, den in den kommenden Jahren das Unternehmen Carbones del Golfo beginnen will.

Am Montag, 20. März, warnte uns ein Bewohner von San José vor einem geplanten Anschlag auf Germán Graciano Posso, den gesetzlichen Vertreter der Friedensgemeinde, und auf Arley Tuberquia, Mitglied unseres internen Rates. Paramilitärs verfolgen sie seit Monaten.

In letzter Zeit haben wir eine starke Bewegung von Paramilitärs, die Lang- und Kurzwaffen und Funkgeräte mit sich führten, in den Bauernhöfen, die ihnen gehören und in den verschiedenen Dörfern von San José de Apartadó festgestellt. Ende März hat die nationale Regierung angekündigt, den Waffenstillstand mit dem Golf-Clan, auch Autodefensas Gaitanistas de Colombia (AGC) genannt, aufzukündigen. (Anm. d. Ü.: Der linke Präsident Gustavo Petro hatte bei seinem Amtsantritt vergangenes Jahr eine Politik des totalen Friedens („paz total“) angekündigt. Danach will die Regierung nicht nur mit der Guerillagruppe ELN und den weiterkämpfenden Überbleibseln der Farc verhandeln, sondern auch mit den paramilitärischen Banden, von denen der Golf-Clan eine der einflussreichsten ist. Den Paras sollen, ähnlich wie der Guerilla, Strafnachlässe angeboten werden, wenn sie ihre Tätigkeit einstellen.

Während die Guerilla jedoch die Aussicht, ins zivile Leben zurückzukehren und sich in eine politische Kraft zu verwandeln, eventuell verlockend findet, ist so ein Angebot für die Paras gegenstandlos, weil sie keine sozialreformerischen Ziele verfolgen. So bleibt dem Staat nur, Strafnachlässe anzubieten. Das ist für den Golf-Clan aber nur von begrenztem Interesse. Nach einer kurzen Waffenruhe töteten der Golf-Clan in letzter Zeit allein in Antioquia 18 Menschen, worauf der Staat seine Zusagen fürs erste widerrief. Die Zeitschrift Semana beschreibt Anfang April die Hintergründe: Die intern zerstrittene AGC profitiere von der illegalen Goldproduktion derart, dass sie Strafnachlässe und Friedensschlüsse nicht interessierten.)

Als Friedensgemeinde sind wir uns bewusst, dass sich die Konfliktsituation unabhängig davon, ob es einen Friedensprozess gibt oder nicht, nicht wesentlich ändern wird. Denn wir hören, dass die Paramilitärs in der Region nach Möglichkeiten suchen, die Regierung in diesem Friedensprozess zu betrügen. Angesichts dieser Situation bleibt uns nichts anderes übrig, als an unseren ethischen und moralischen Überzeugungen festzuhalten, wohl wissend, wie schwierig es sein wird, sich dieser Maschinerie des Terrors entgegenzustellen. Von unserem geliebten Territorium aus können wir nur all den Stimmen der Ermutigung danken, die wir täglich aus dem Land und der Welt erhalten und die uns den Mut geben, unseren zivilen Widerstand als Friedensgemeinschaft fortzusetzen.

Friedensgemeinde San José de Apartadó, 22. März 2023