Auch unter der neuen kolumbianischen Regierung gehen Unterdrückung und Verfolgung unvermindert weiter

San José de Apartadó, 30. Dezember 2022

Es sind nur noch zwei Tage, bis das Jahr zu Ende geht und ein neues beginnt. Zum Jahreswechsel müssen wir überrascht und erschreckt feststellen, dass der Paramilitarismus in unserer Region weiterhin heimlich erstarkt. Schamlos und komplizenhaft von diversen staatlichen Institutionen gefördert und unterstützt, kaufen die Paras Häuser und Farmen, sie bauen sich Villen, bewegen sich in luxuriösen Fahrzeugen, und das alles mit Geld, das aus dem organisierten Verbrechen stammt. Wo sind die staatlichen Institutionen? Sind sie Komplizen oder schon Teilhaber dieses ungezügelten und unkontrollierten kriminellen Apparats?

Wir wenden uns erneut an die Weltöffentlichkeit, um uns Gehör zu verschaffen und gleichzeitig vor der Geschichte Zeugnis abzulegen, damit sie eines Tages ein Urteil fällt.

Die neuesten Ereignisse sind;
Am Dienstag, den 8. November 2022, hat uns eine respektlose Behandlung durch das Zweite Zivilgericht des Kreises Apartadó perplex und ratlos zurückgelassen. Angesichts der Drohungen, uns unsere Farm La Roncona zu enteignen, die für unseren Lebensunterhalt unverzichtbar ist und sich seit 25 Jahren friedlich in unserem rechtmäßigen Besitz befindet, hatten wir einen Prozess zur endgültigen Klärung der Eigentumsverhältnisse angestrengt. Eine Anhörung war für den 26. Oktober angesetzt, wurde aber am selben Tag abgesagt, als die, die angehört werden sollten, bereits in der Stadt waren. Als Grund wurden zunächst technische Probleme angegeben, aber später wurde in einer offiziellen Mitteilung behauptet, dass der zuständige Richter vom 26. bis 28. Oktober im Urlaub war, eine Situation, die schon Tage vorher hätte bekannt sein müssen und unserer Gemeinschaft nicht mitgeteilt wurde. Es ist nicht das erste Mal, dass diese Anhörung abgesagt wird, jetzt  wurde sie auf den 8. Februar um 21 Uhr verschoben – nur dieses Gericht kann auf die Idee kommen, eine Anhörung auf 21 Uhr anzusetzen!

Am Mittwoch, den 9. November, erfuhr unsere Gemeinde, dass Lorena Otagri, Mitglied der Junta de Acción Comunal von La Victoria, von Paramilitärs über Nachrichten in sozialen Netzwerken und per Telefon bedroht wurde (Anm. d. Ü.: Die Juntas de Acción Columnal sind in der kolumbianischen Verfassung verankerte Mitbestimmungsgremien auf lokaler Ebene. In der Praxis sind die JAC oft von den örtlichen Machthabern beherrscht). Lorena wurde darin aufgefordert, an einem Ort nahe des Militärstützpunktes in der Stadt San Jose de Apartadó zu erscheinen.

Am Donnerstag, den 10. November, gaben zwei Personen auf Motorrädern kurz vor Mitternacht Schüsse mit Handfeuerwaffen auf der Straße nach San José ab, und zwar vor unserer Siedlung San Josecito, wo die Patronenhülsen zurückgelassen wurden. Es ist mittlerweile üblich, dass sich Paramilitärs in Kampfuniformen mit Waffen und Funkgeräten in verschiedenen Dörfern, auch in den Wohn- und Arbeitsbereichen unserer Friedensgemeinde bewegen und alles kontrollieren. Am Dienstag, den 15. November, wiederholte sich der Vorfall, diesmal gegen 22.32 Uhr.

Am Mittwoch, den 16., und Donnerstag, den 17. November, traten mehrere Siedler an unsere Gemeinschaft heran, um Genehmigungen für den Bau von Straßen auf unserem Land und in Richtungder Weiler von San José de Apartadó zu bitten. Sie erklärten, dass diese Arbeiten von den Sicherheitskräften durchgeführt würden, dass die aber die Bauern der Region gebeten haben, mit den Eigentümern der einzelnen Grundstücke zu verhandeln. – Wir haben schon wiederholt erklärt, dass wir diese Methode der Planung und territorialen Neuordnung verurteilen, die von den Militärs und Paramilitärs beschlossen und verfolgt wird. Denn es ist dabei völlig undurchsichtig, welchem
Modell von „Entwicklung“ oder „Anti-Entwicklung“ diese Pläne dienen, und es gibt keine demokratische Diskussion mit der bäuerlichen Bevölkerung darüber, was die Pläne für sie bedeuten. In der Woche vom 20. November haben uns mehrere Bauern über Versammlungen informiert, die von Paramilitärs in mehreren Dörfern des Kreises San José abgehalten wurden. Die Paramilitärs üben eine soziale und wirtschaftliche Kontrolle aus, indem sie den Bauern in unserem Gebiet unter Androhung von Geldstrafen von bis zu acht Millionen Pesos (Anm. d. Ü.: rund 1550 Euro) verbieten, landwirtschaftliche Arbeiten zu verrichten.

Am Dienstag, den 29. November, wurden morgens an einem Ort namens Partidas de Arenas, zwischen dem Dorf La Unión und dem Weiler San José, drei Unbekannte in dunklen Anzügen und mit Schusswaffen gesichtet, die eine so entspannte Haltung an den Tag legten, als wären sie die Herren der Region.

Am Freitag, den 2. Dezember, kamen mehrere Personen auf das Land des Friedensdorfes „Luis Eduardo Guerra“ im Dorf Mulatos Medio. Sie führten dort respektlos und ohne Genehmigung soziale und Freizeitaktivitäten durch. In den Tagen zuvor hatten die Paramilitärs und einige Bewohner des Dorfes bereits angekündigt, auf diesen Grund und Boden, der unserer Friedensgemeinschaft gehört, einzudringen.

Am Sonntag, den 4. Dezember, führte unsere Gemeinschaft einen informellen Dialog mit dem kolumbianischen Verteidigungsminister und dem Hohen Kommissar für Frieden, die das Treffen vorgeschlagen hatten. (Anm. d. Ü.: Der vom linken Präsidenten Gustavo Petro neu berufene Verteidigungsminister Iván Velásquez Gómez ist ein bekannter Jurist, der durch sein Eintreten gegen Korruption und gegen die Straflosigkeit internationales Renommee gewonnen hat. Vor allem sein Kampf gegen die Paramilitärs und deren oft stillschweigende oder offene Duldung durch Polizei und Armee hat ihm hohes Ansehen verschafft. – Auch Iván Danilo Rueda Redríguez, der neue Hohe Kommissar für Frieden, gilt als exzellente Wahl Petros. Der Menschenrechtsanwalt war an den offiziellen Untersuchungen einiger der furchtbarsten Übergriffe sowohl der Farc-Guerrilla als auch der Paramilitärs und Militärs beteiligt, er hat an den Friedensverhandlungen zwischen Staat und Farc in Kuba ebenso teilgenommen wie an den neueren Gesprächen zwischen Regierung und der Guerrilla ELN.)  Bei diesem Dialog legten wir Zeugnis ab von vielen Situationen, unter denen unsere Friedensgemeinschaft in mehr als 25 Jahren gelitten hat – Ereignisse, für die größtenteils die  staatlichen Institutionen die Verantwortung tragen, insbesondere bei den Sicherheitskräften und ihren illegalen zivilen Waffenbrüdern. Der Minister und der Friedenskommissar wurden auch daran erinnert, dass die Friedensgemeinschaft seit langem einen Bruch mit den staatlichen Institutionen
aufrechterhält und das auch weiterhin tun wird, solange nicht vier Bedingungen erfüllt sind, die die Gemeinschaft als Mindestbeweis für den guten Willen bei eventuellen Dialogen festgelegt hat. (Anm.d. Ü.: Leider führt der Blog nicht aus, welche diese vier Bedingungen sind).
Noch am selben Tag teilte der Verteidigungsminister auf seinem offiziellen Social-Media-Kanal mit, dass er sich den Schmerz der Vergangenheit der Friedensgemeinschaft angehört habe – obwohl die Zeugenaussagen auch vom Schmerz der Gegenwart sprachen. Und keine 30 Minuten nachdem der Verteidigungsminister unsere Gemeinde verlassen hatte, sahen wir bekannte Paramilitärs auf der Straße vor unserer Siedlung San Josecito vorbeiziehen: In völliger Ruhe und als einen weiteren Affront gegen unseren Lebensprozess, oder vielleicht, um die Botschaft zu hinterlassen, dass in diesem Gebiet ihre Kontrolle total und militärisch-paramilitärisch ist.

Am Montag, den 5. Dezember, machte die Senatorin María Fernanda Cabal (Anm. d. Ü.: Die Senatorin für Bogotá, die Donald Trump und Jair Bolsonaro als ihre politischen Vorbilder bezeichnet, gehört der rechtsextremen Partei Centro Democrático des früheren Präsidenten Álvaro Uribe an. Wie ihre Partei lehnt die Senatorin den 2016 geschlossenen Friedensvertrag mit der Guerrilla Farc strikt ab.) über die sozialen Netzwerke infame und unverantwortliche Bemerkungen, in denen sie unsere Friedensgemeinschaft und unseren Begleiter, Pater Javier Giraldo, als Guerilleros bezeichnete. In der kolumbianischen Gesellschaft ist ihre routinemäßige Praxis des Lügens, der Verleumdung, der
Verunglimpfung und der Äußerung von geballtem Hass ….bestens bekannt. Jeder weiß, dass sie dies tut, weil sie über eine Reihe von staatlichen Kontrollorganen verfügt, die sich durch eine systemische Straflosigkeit auszeichnen, die die elementarste Glaubwürdigkeit der Justiz diskreditiert und unterdrückt hat. Das macht jeden Versuch einer strafrechtlichen Verfolgung absolut nutzlos. In jedem Rechtsstaat würden ihre
Schandtaten strafrechtlich verfolgt. In Kolumbien jedoch ist das undenkbar, da die Senatorin zur erbärmlichen, aber unangreifbaren Elite gehört. (…)

Am Mittwoch, den 7. Dezember, waren zwei Personen in Zivilkleidung mit Handfeuerwaffen auf dem Landgut La Roncona, das unserer Friedensgemeinschaft gehört. Das ist nicht das erste Mal, es wiederholt sich immer wieder, trotz unserer Beschwerden, die wir an hochrangige Repräsentanten des kolumbianischen Staates herangetragen haben.Am selben Tag wurden in einem Ort in der Nähe der Stadt San José mehrere Paramilitärs auf Maultieren gesehen, die sich den Bewohnern der Region näherten und mit Notizbüchern in der Hand geheimnisvolle Berichte aufschrieben. Zu solchen Zählungen kam es in mehreren Dörfern der Gemeinde San Jose de Apartadó.

Am Donnerstag, den 15. Dezember, wurden Mitglieder unserer Gemeinschaft von einem bekannten Paramilitär der Region angesprochen, der erklärte, der Besuch des Verteidigungsministers in der Friedensgemeinschaft könnte uns teuer zu stehen kommen.

Am Sonntag, den 18. Dezember, drangen mehrere Rinder der Paramilitärs, die das benachbarte Grundstück erworben hatten, in das Land La Cumbre, das unserer Friedensgemeinschaft gehört, im Dorf Mulato ein. Diese Tiere schädigten die Bohnen- und andere Nahrungsmittelkulturen von Mitgliedern unserer Friedensgemeinschaft. (…)

Am Donnerstag, den 29. Dezember, drohte ein bekannter Paramilitär, unsere Friedensgemeinde werde ausgelöscht. Es gebe die Möglichkeit, ein oder zwei führende Persönlichkeiten unserer Gemeinschaft zu liquidieren, oder man könnte den Mitgliedern der Gemeinde Geld und Annehmlichkeiten anbieten, damit sie diesen Lebensprozess aufgeben.

Wir danken den Menschen und Gemeinschaften aus verschiedenen Ecken der Welt, die uns mit ihrer Großzügigkeit und ihren menschlichen Qualitäten stärken. Ungeachtet verschiedener kulturellen Realitäten geben sie uns die moralische Kraft und Ausdauer, ohne die wir unseren Weg nicht weiterbeschreiten könnten.

Comunidad de Paz de San José de Apartadó, 30. Dezember 2022