Wie lange wird die paramilitärische Vorherrschaft in einem sich wandelnden Kolumbien noch andauern?

Die Barbarei des Todes kennt kein Ende: Paramilitärs ermorden einen jungen Bauern in San José. Die Ereignisse fanden am 23. September statt, ganz in der Nähe der Polizeistation und der Militärbasis. Das Opfer ist ein örtlicher Landwirt. Die Leiche lag am Tag nach der Tat immer noch am Fundort.

Unsere Friedensgemeinschaft wendet sich erneut an die nationale und internationale Gemeinschaft, um über die jüngsten Ereignisse zu berichten, die das Leben der Zivilbevölkerung in unserem Umfeld bedrohen und die sich gegen die Existenz unserer Friedensgemeinschaft richten. In unserem Gebiet herrscht weiterhin der Tod, da die Paramilitärs weiterhin ihre Waffen einsetzen, um ihre Botschaft zu verkünden: „Entweder ihr unterwerft euch oder ihr sterbt“.

Die Fakten, die wir der Öffentlichkeit zur Beurteilung zur Kenntnis geben, sind folgende:

Am Freitag, 16. September, traf eine Gruppe von Ingenieuren und Technikern auf dem Grundstück La Roncona unserer Friedensgemeinschaft ein. Sie sprachen mehrere Mitglieder von uns an und zeigten Dokumente vor, nach denen sie den Auftrag hätten, im Abschnitt zwischen Caracolí und San José das dortige Schwemmland des Flusses San José auf seinen geologischen Gehalt zu untersuchen. Die Papiere besagten, sie seien befugt, dieses Gebiet zu betreten, das jedoch Privatbesitz unserer Friedensgemeinschaft ist. Sie kündigten an, dass sie das Gebiet auf die Möglichkeit der Ausbeutung von Kohle in der Serranía de Abibe sowie von Kalkstein, Öl und Gold untersuchen wollten.

Diese Ankündigungen erfolgen vor dem Hintergrund der illegalen Ausbeutung des Schwemm-Materials des Flusses durch das Bürgermeisteramt und Privatpersonen, die es kommerziell verwerten. All dies entspricht einem offensichtlichen Entwicklungsplan, der bei einem kürzlichen Besuch einer anderen Delegation in der ersten Augustwoche 2022 angekündigt wurde, die in mehreren Dörfern der Gemeinde San José de Apartadó zugegen war.

Am Freitag, 23. September, fand tagsüber im Stadtzentrum von San José ein Betreuungstag für die Zivilbevölkerung statt, an dem u.a. eine Gesundheitsbrigade, Vertreter der Opferbetreuung und Standesbeamte teilnahmen (Die kolumbianische Justiz unterhält Teams von Anwälten und anderen juristisch gebildeten Personen, die sich der Betreuung von Opfern kriminieller Handlungen widmen (“Atención a Víctimas”). Dabei geht es vor allem auf dem Land darum, den Betroffenen den Zugang zur Justiz zu erleichtern, sie über ihre Rechte aufzuklären und sie zu unterstützen. – In vielen entlegenen Gegenden nicht nur Kolumbiens, sondern Südamerikas werden ambulante Standesämter herumgeschickt, um Eheschließungen, Todesfälle und Geburten zu registrieren, was unter anderem der erbrechtlichen Klarheit dient. Anm. d. Ü.) . Laut Zeugenaussagen waren mehrere Beamte aus dem Büro des Bürgermeisters anwesend. Diese sozialen Aktivitäten, die von staatlichen Stellen in Kolumbien durchgeführt werden, finden weiterhin inmitten der Präsenz bekannter Paramilitärs, Militärs und Polizisten statt. Das ist in diesem Gebiet Routine, aber wir finden es inakzeptabel.

Am selben Freitag wurden gegen 18 Uhr in der Nähe der Stadt San José mehrere Schüsse abgefeuert, die das Leben des jungen Bauern Jimmi Andrés Tuberquia, 18 Jahre alt, aus dem Dorf La Unión beendeten. Jimmi war am 10. Januar 2020 von den Paramilitärs im Dorf La Unión rekrutiert worden, hatte La Unión nach Todesdrohungen der Paramilitärs im Juli 2021 verlassen und war von Verwandten nach Medellín gebracht worden.

Am Samstag, 24. September, bildeten Mitglieder unserer Friedensgemeinschaft, nachdem sie vom Tod Jimmis erfahren hatten, eine Kommission und begaben sich zu der Stelle, an der am Vortag die Schüsse fielen. Sie fanden die Leiche des jungen Tuberquia am Ufer des Flusses San José. Stunden später trafen die zuständigen Behördenvertreter am Tatort ein und nahmen die Leiche mit. Trotz der Nähe zum Militärstützpunkt und zur örtlichen Polizeistation musste die Familie des Opfers mehr als 18 Stunden lang warten, bis der Leichnam freigegeben wurde.

Als Angehörige und Gemeindemitglieder den toten Jimmi schließlich wegtrugen, näherte sich ein bekannter Paramilitär, fotografierte die Szene und den toten Körper und verschwand danach.

Die digitale Zeitung “Alertapaisa” meldete am Samstag den Tod von Jimmi und schrieb, die Leiche sei nach Angaben der Behörden „drei Kilometer“ von San José entfernt aufgefunden worden. Weiter hieß es: „Die Behörden untersuchen die Hintergründe des Verbrechens und ob der junge Mann an dem Ort, an dem er gefunden wurde, ermordet wurde“. – Die Presse und die Behörden verzerren alles und versuchen, die Aufmerksamkeit von der Realität, unter der wir leiden, abzulenken.

Am Sonntag, 25. September, erfuhr unsere Gemeinde, dass ein unter dem Alias-Namen Franco bekannter Paramilitär, der in den Dörfern von San José operiert, durch einen neuen paramilitärischen Kommandanten ersetzt wurde, der in der Gegend angekommen ist, um die Kontrolle auszuüben. Dieser kündigte an, dass er eine Liste von Personen aus dem Stadtzentrum von San José und anderen Dörfern habe, die er töten wolle, und beschuldigte sie, Rebellen zu sein, wenn sie seine Befehle nicht befolgten. Darunter befindet sich auch die Friedensgemeinde. Er kündigte außerdem die Hinrichtung von angeblichen Dieben und Drogen-Konsumenten an – Substanzen, die von den Paramilitärs selbst geduldet, konsumiert und verkauft werden.

Am selben Sonntag verschwand nachts ein weiterer junger Mann aus dem Dorf San José und wurde mehr als 24 Stunden lang von den Paramilitärs festgehalten und gefoltert. (…)

Am Dienstag, 27. September, zeigt das Militär tagsüber im Stadtzentrum von San José de Apartadó starke Präsenz, ebenso an der Straße, die vom Stadtzentrum von Apartadó nach San José führt. Nach Angaben regionaler Medien handelte es sich dabei um eine Sicherheitsoperation. In Wahrheit hat die Anwesenheit der Sicherheitskräfte nur dazu gedient, die Paramilitärs zu schützen, die seit mehr als zwei Jahrzehnten zusammen mit den Sicherheitskräften Verbrechen in den Dörfern des Bezirks begehen.

Am Freitag, 30. September, waren gegen 19 Uhr in der Nähe des Stadtzentrums von San José de Apartadó mehrere Schüsse zu hören. und das  inmitten einer Sicherheitsoperation von Armee und Polizei im besiedelten Gebiet und am Stadtrand von San José.

Am Samstag, 1. Oktober, konnte man bei den Aktivitäten des Entminungsbataillons Nr. 6, bei denen der Hubschrauber auch außerhalb des Dorfes La Unión landete, beobachten, wie Kinder inmitten der Manöver dabei waren und dass das die Truppen einfach toleriert haben. Wir lehnen es nach wie vor ab, dass die Zivilbevölkerung, insbesondere Minderjährige, bei solchen Manövern, die in die unmittelbare Zuständigkeit der Militärbehörden fallen, dabei sein soll.

Angesichts der ständigen Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen aus unserer Umgebung, die mit verschiedensten Versprechungen angelockt und so in den Krieg verwickelt werden, bekräftigen wir erneut, dass es unmenschlich ist, sie in das Rennen des Todes zu schicken. Der Traum von einem Leben ohne Krieg darf ihnen nicht verwehrt werden.

Am Montag, 3. Oktober, schlich sich ein Unbekannter nachts gegen drei Uhr heimlich in unsere Siedlung San Josesito, offenbar mit dem Ziel, unsere Mitglieder und die Wohnräume unserer Siedlung auszuspionieren.

Unser ständiger Dank gilt all jenen, die uns aus verschiedenen Regionen und Nationen mit ihrer solidarischen Unterstützung begleiten!

Friedensgemeinschaft San José de Apartadó, 4. Oktober 2022

Blutiger Frieden

Die Aggressionen und Repressionen gegen unsere Friedensgemeinschaft San José de Apartadó und gegen die Bevölkerung in unserer Umgebung sind eine systematische und andauernde Bedrohung mit dem Ziel, die Menschen zu unterwerfen. Die Paramilitärs zirkulieren ungehindert durch unsere Territorien. Sie schüchtern die Bevölkerung ein, und sie ermorden gnadenlos jeden, den sie als Hindernis bei der Durchsetzung ihrer perversen Pläne ansehen.

In den letzten Tagen wurden unter obskuren Bedingungen Dokumente und sensible Informationen von unserer Friedensgemeinschaft und anderen gleichgesinnten Organisationen entwendet.

Einige Führer der Juntas de Acción Comunal (von der Verfassung vorgesehene lokale Mitbestimmungsgremien, in der Praxis häufig von den örtlichen Machthabern wie den Paramilitärs unterwandert, Anm. d. Ü.) von San José, die sich vielleicht jetzt den Paramilitärs beugen, unterstützen nicht mehr die Bauern, sondern sind nun auf Seiten derer, die die schlimmsten Verbrechen begangen haben. Sie behindern damit die Möglichkeit, dass die Wahrheit eines Tages bekannt wird.

Unsere Gemeinschaft wendet sich wieder den chronologischen Aufzeichnungen zu, dem einzigen Weg, der die Menschheit und die Geschichte dazu führt, diese Tatsachen eines Tages zu beurteilen.

Die neuen Fakten, auf die wir Sie aufmerksam machen, sind die folgenden:

  • Am Donnerstag, den 13. Oktober 2022, gegen 3:00 Uhr morgens, wurde die Stadt San José de Apartadó von Paramilitärs überschwemmt, die auf 25 Motorrädern auf der Straße von Apartadó nach San José unterwegs waren, der einzigen in der Gegend. Dort wurden sie von Paramilitärs aus der Gegend empfangen und zum Quellgebiet des Río San José gebracht. Die Paramilitärs kehrten gegen 15 Uhr zurück, durchquerten erneut die Stadt San José und fuhren in Richtung Apartadó davon. Die Paramilitärs zeigen diese Präsenz trotz des Polizeiquartiers und der Militärbasis in der Stadt San José – wir fragen uns, ob sich dies mit der Annäherung der Regierung an die paramilitärischen Gruppen erklärt. Oder ist es eher ein Ausdruck der Komplizenschaft zwischen den paramilitärischen Gruppen und der staatlichen Ordnungsmacht, die diese paramilitärische Präsenz einfach toleriert und koordiniert? – Vor dem Hintergrund von Tod, Bedrohung und Verfolgung, dem unsere Friedensgemeinschaft und die Bevölkerung um uns herum ausgesetzt sind, ist so eine Komplizenschaft äußerst ernst.
    (…)
    Am Sonntag, den 16. Oktober, gegen 21:40 Uhr wurde im Dorf La Unión, im Umland von San José, der leblose Körper des Bauern Gilberto Úsuga, eines Bewohners dieses Dorfes, gefunden. Offenbar wurde er in einem Wassergraben ertränkt. Gilberto war schon früher ein Opfer der Paramilitärs. Im Juli vergangenen Jahres wollten ihm mehrere Paramilitärs drei Hühner abkaufen, und als er sich weigerte, stahlen die Paras die Hühner. Darüber hinaus hatten ihm Anfang Oktober die Paramilitärs verboten, Nahrungsmittel anzubauen, eine Anordnung, die er nicht befolgte.
  • Am Freitag, den 21. Oktober, berichtete der Kommandant der Polizei von Urabá, Óscar Cortés, in mehreren Medien über die Festnahme von zwei bekannten Paramilitärs, alias El Burro und alias Chulo, letzterer namens Albeiro Cardona Borja (…). Nach Angaben des Polizeibeamten war Cardona seit 25 Jahren in paramilitärischen Gruppen und vorbestraft. Was der hochrangige Offizier jedoch nicht mitteilte: Die Eingliederung von Albeiro Cardona sowie seiner Brüder Ovidio und Lubín in den Paramilitarismus war das Werk der staatlichen öffentlichen Gewalt. Unsere Friedensgemeinde hat nicht vergessen, dass am 26. Dezember 2005 die drei Cardona-Brüder von der 17. Heeresbrigade dazu gebracht wurden, auf einer Weihnachtsfeier in La Cristalina sechs junge Menschen zu massakrieren. Das Verbrechen hatte damals auch das Ziel, den Brüdern den Seitenwechsel von der Farc zu den Paras zu erleichtern, die damals unter Führung der Armee standen. Es war allgemein bekannt, dass die Armee sie für ihre Teilnahme am Massaker von La Cristalina bezahlte. Für jeden Mord erhielten sie vier Millionen Pesos, ferner Tarnuniformen, Waffen und Fahrzeuge, um als Paramilitärs im Dienste der Armee zu fungieren.
    Die Brüder Cardona gingen so offen vor, dass ihre Taten allgemein bekannt wurden. Sie prahlten selbst öffentlich mit ihrer tödlichen Macht. Sie waren stolz darauf, mit Unterstützung des Staates über das Leben von Menschen bestimmen zu können.
    In vielen Akten, die jetzt archiviert sind, finden sich die falschen Anschuldigungen der Brüder, die sich gegen Mitglieder und Gefährten unserer Friedensgemeinde richten. Auf Druck der Brigade wurden wir beschuldigt, Kollaborateure der Guerilla zu sein, ohne dass dafür irgendein glaubhafter Beweis hätte vorgebracht werden können.
    Wir wissen nicht, ob die neue Polizeiführung mit der Festnahme von Chulo und El Burro womöglich eine Art Rehabilitation unserer Friedensgemeinde beabsichtigt hat. Jedenfalls sollte das nicht auf diese Weise geschehen. Nötig ist eine umfassende Aufklärung der zahllosen Verbrechen, die der Staat an unserer Friedensgemeinde begangen hat. (…)

    Am Samstag, den 22. Oktober, stellte Gildardo Tuberquía, ein bewährtes Mitglied unseres Führungszirkels, fest, dass auf seinem Land im Dorf La Unión zwei Bewohner des Dorfes Substanzen versprühten, ohne dass Tuberquía das gestattet hätte. Die Eindringlinge widersetzten sich der Aufforderung zu verschwinden, deshalb wurden ihnen die Schläuche ihrer Sprühgeräte durchgeschnitten.
    Der Vorfall zeigt erneut, dass unserer Friedensgemeinde so viel Land wie möglich weggenommen werden soll, um sie zu schwächen und um sie eines Tages zu vernichten.

Am Dienstag 1. November, gegen 19:40 Uhr, erhielt unsere Gemeinde einen Anruf, der uns über einen Plan informierte, dass Paramilitärs planten, in das Friedensdorf Luis Eduardo Guerra im Dorf Mulato Medio wenn notwendig gewaltsam einzudringen.
Am Mittwoch, 2. November, gegen 15:00 Uhr, erhielt unsere Gemeinde einen Anruf von einem Bewohner der Gemeinde San José, in dem die Absicht der Paramilitärs mitgeteilt wird, zwei Bewohner der Region zu ermorden.

Wir wiederholen, dass sie uns weder mit Gewehren noch mit anderen Vernichtungsstrategien zum Schweigen bringen werden. Unser Projekt geht weiter, und es orientiert sich weiterhin an den Werten des Lebens.

Wir halten die Erinnerung an unsere Märtyrer lebendig, die ihr Leben gegeben haben, um eine gerechtere Welt aufzubauen. Wir danken allen Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt, die uns mit ihrer moralischen Stärke für eine bessere Welt unterstützen.

Comunidad de Paz de San José de Apartadó 3. November 2022

Auch unter der neuen kolumbianischen Regierung gehen Unterdrückung und Verfolgung unvermindert weiter

San José de Apartadó, 30. Dezember 2022

Es sind nur noch zwei Tage, bis das Jahr zu Ende geht und ein neues beginnt. Zum Jahreswechsel müssen wir überrascht und erschreckt feststellen, dass der Paramilitarismus in unserer Region weiterhin heimlich erstarkt. Schamlos und komplizenhaft von diversen staatlichen Institutionen gefördert und unterstützt, kaufen die Paras Häuser und Farmen, sie bauen sich Villen, bewegen sich in luxuriösen Fahrzeugen, und das alles mit Geld, das aus dem organisierten Verbrechen stammt. Wo sind die staatlichen Institutionen? Sind sie Komplizen oder schon Teilhaber dieses ungezügelten und unkontrollierten kriminellen Apparats?

Wir wenden uns erneut an die Weltöffentlichkeit, um uns Gehör zu verschaffen und gleichzeitig vor der Geschichte Zeugnis abzulegen, damit sie eines Tages ein Urteil fällt.

Die neuesten Ereignisse sind;
Am Dienstag, den 8. November 2022, hat uns eine respektlose Behandlung durch das Zweite Zivilgericht des Kreises Apartadó perplex und ratlos zurückgelassen. Angesichts der Drohungen, uns unsere Farm La Roncona zu enteignen, die für unseren Lebensunterhalt unverzichtbar ist und sich seit 25 Jahren friedlich in unserem rechtmäßigen Besitz befindet, hatten wir einen Prozess zur endgültigen Klärung der Eigentumsverhältnisse angestrengt. Eine Anhörung war für den 26. Oktober angesetzt, wurde aber am selben Tag abgesagt, als die, die angehört werden sollten, bereits in der Stadt waren. Als Grund wurden zunächst technische Probleme angegeben, aber später wurde in einer offiziellen Mitteilung behauptet, dass der zuständige Richter vom 26. bis 28. Oktober im Urlaub war, eine Situation, die schon Tage vorher hätte bekannt sein müssen und unserer Gemeinschaft nicht mitgeteilt wurde. Es ist nicht das erste Mal, dass diese Anhörung abgesagt wird, jetzt  wurde sie auf den 8. Februar um 21 Uhr verschoben – nur dieses Gericht kann auf die Idee kommen, eine Anhörung auf 21 Uhr anzusetzen!

Am Mittwoch, den 9. November, erfuhr unsere Gemeinde, dass Lorena Otagri, Mitglied der Junta de Acción Comunal von La Victoria, von Paramilitärs über Nachrichten in sozialen Netzwerken und per Telefon bedroht wurde (Anm. d. Ü.: Die Juntas de Acción Columnal sind in der kolumbianischen Verfassung verankerte Mitbestimmungsgremien auf lokaler Ebene. In der Praxis sind die JAC oft von den örtlichen Machthabern beherrscht). Lorena wurde darin aufgefordert, an einem Ort nahe des Militärstützpunktes in der Stadt San Jose de Apartadó zu erscheinen.

Am Donnerstag, den 10. November, gaben zwei Personen auf Motorrädern kurz vor Mitternacht Schüsse mit Handfeuerwaffen auf der Straße nach San José ab, und zwar vor unserer Siedlung San Josecito, wo die Patronenhülsen zurückgelassen wurden. Es ist mittlerweile üblich, dass sich Paramilitärs in Kampfuniformen mit Waffen und Funkgeräten in verschiedenen Dörfern, auch in den Wohn- und Arbeitsbereichen unserer Friedensgemeinde bewegen und alles kontrollieren. Am Dienstag, den 15. November, wiederholte sich der Vorfall, diesmal gegen 22.32 Uhr.

Am Mittwoch, den 16., und Donnerstag, den 17. November, traten mehrere Siedler an unsere Gemeinschaft heran, um Genehmigungen für den Bau von Straßen auf unserem Land und in Richtungder Weiler von San José de Apartadó zu bitten. Sie erklärten, dass diese Arbeiten von den Sicherheitskräften durchgeführt würden, dass die aber die Bauern der Region gebeten haben, mit den Eigentümern der einzelnen Grundstücke zu verhandeln. – Wir haben schon wiederholt erklärt, dass wir diese Methode der Planung und territorialen Neuordnung verurteilen, die von den Militärs und Paramilitärs beschlossen und verfolgt wird. Denn es ist dabei völlig undurchsichtig, welchem
Modell von „Entwicklung“ oder „Anti-Entwicklung“ diese Pläne dienen, und es gibt keine demokratische Diskussion mit der bäuerlichen Bevölkerung darüber, was die Pläne für sie bedeuten. In der Woche vom 20. November haben uns mehrere Bauern über Versammlungen informiert, die von Paramilitärs in mehreren Dörfern des Kreises San José abgehalten wurden. Die Paramilitärs üben eine soziale und wirtschaftliche Kontrolle aus, indem sie den Bauern in unserem Gebiet unter Androhung von Geldstrafen von bis zu acht Millionen Pesos (Anm. d. Ü.: rund 1550 Euro) verbieten, landwirtschaftliche Arbeiten zu verrichten.

Am Dienstag, den 29. November, wurden morgens an einem Ort namens Partidas de Arenas, zwischen dem Dorf La Unión und dem Weiler San José, drei Unbekannte in dunklen Anzügen und mit Schusswaffen gesichtet, die eine so entspannte Haltung an den Tag legten, als wären sie die Herren der Region.

Am Freitag, den 2. Dezember, kamen mehrere Personen auf das Land des Friedensdorfes „Luis Eduardo Guerra“ im Dorf Mulatos Medio. Sie führten dort respektlos und ohne Genehmigung soziale und Freizeitaktivitäten durch. In den Tagen zuvor hatten die Paramilitärs und einige Bewohner des Dorfes bereits angekündigt, auf diesen Grund und Boden, der unserer Friedensgemeinschaft gehört, einzudringen.

Am Sonntag, den 4. Dezember, führte unsere Gemeinschaft einen informellen Dialog mit dem kolumbianischen Verteidigungsminister und dem Hohen Kommissar für Frieden, die das Treffen vorgeschlagen hatten. (Anm. d. Ü.: Der vom linken Präsidenten Gustavo Petro neu berufene Verteidigungsminister Iván Velásquez Gómez ist ein bekannter Jurist, der durch sein Eintreten gegen Korruption und gegen die Straflosigkeit internationales Renommee gewonnen hat. Vor allem sein Kampf gegen die Paramilitärs und deren oft stillschweigende oder offene Duldung durch Polizei und Armee hat ihm hohes Ansehen verschafft. – Auch Iván Danilo Rueda Redríguez, der neue Hohe Kommissar für Frieden, gilt als exzellente Wahl Petros. Der Menschenrechtsanwalt war an den offiziellen Untersuchungen einiger der furchtbarsten Übergriffe sowohl der Farc-Guerrilla als auch der Paramilitärs und Militärs beteiligt, er hat an den Friedensverhandlungen zwischen Staat und Farc in Kuba ebenso teilgenommen wie an den neueren Gesprächen zwischen Regierung und der Guerrilla ELN.)  Bei diesem Dialog legten wir Zeugnis ab von vielen Situationen, unter denen unsere Friedensgemeinschaft in mehr als 25 Jahren gelitten hat – Ereignisse, für die größtenteils die  staatlichen Institutionen die Verantwortung tragen, insbesondere bei den Sicherheitskräften und ihren illegalen zivilen Waffenbrüdern. Der Minister und der Friedenskommissar wurden auch daran erinnert, dass die Friedensgemeinschaft seit langem einen Bruch mit den staatlichen Institutionen
aufrechterhält und das auch weiterhin tun wird, solange nicht vier Bedingungen erfüllt sind, die die Gemeinschaft als Mindestbeweis für den guten Willen bei eventuellen Dialogen festgelegt hat. (Anm.d. Ü.: Leider führt der Blog nicht aus, welche diese vier Bedingungen sind).
Noch am selben Tag teilte der Verteidigungsminister auf seinem offiziellen Social-Media-Kanal mit, dass er sich den Schmerz der Vergangenheit der Friedensgemeinschaft angehört habe – obwohl die Zeugenaussagen auch vom Schmerz der Gegenwart sprachen. Und keine 30 Minuten nachdem der Verteidigungsminister unsere Gemeinde verlassen hatte, sahen wir bekannte Paramilitärs auf der Straße vor unserer Siedlung San Josecito vorbeiziehen: In völliger Ruhe und als einen weiteren Affront gegen unseren Lebensprozess, oder vielleicht, um die Botschaft zu hinterlassen, dass in diesem Gebiet ihre Kontrolle total und militärisch-paramilitärisch ist.

Am Montag, den 5. Dezember, machte die Senatorin María Fernanda Cabal (Anm. d. Ü.: Die Senatorin für Bogotá, die Donald Trump und Jair Bolsonaro als ihre politischen Vorbilder bezeichnet, gehört der rechtsextremen Partei Centro Democrático des früheren Präsidenten Álvaro Uribe an. Wie ihre Partei lehnt die Senatorin den 2016 geschlossenen Friedensvertrag mit der Guerrilla Farc strikt ab.) über die sozialen Netzwerke infame und unverantwortliche Bemerkungen, in denen sie unsere Friedensgemeinschaft und unseren Begleiter, Pater Javier Giraldo, als Guerilleros bezeichnete. In der kolumbianischen Gesellschaft ist ihre routinemäßige Praxis des Lügens, der Verleumdung, der
Verunglimpfung und der Äußerung von geballtem Hass ….bestens bekannt. Jeder weiß, dass sie dies tut, weil sie über eine Reihe von staatlichen Kontrollorganen verfügt, die sich durch eine systemische Straflosigkeit auszeichnen, die die elementarste Glaubwürdigkeit der Justiz diskreditiert und unterdrückt hat. Das macht jeden Versuch einer strafrechtlichen Verfolgung absolut nutzlos. In jedem Rechtsstaat würden ihre
Schandtaten strafrechtlich verfolgt. In Kolumbien jedoch ist das undenkbar, da die Senatorin zur erbärmlichen, aber unangreifbaren Elite gehört. (…)

Am Mittwoch, den 7. Dezember, waren zwei Personen in Zivilkleidung mit Handfeuerwaffen auf dem Landgut La Roncona, das unserer Friedensgemeinschaft gehört. Das ist nicht das erste Mal, es wiederholt sich immer wieder, trotz unserer Beschwerden, die wir an hochrangige Repräsentanten des kolumbianischen Staates herangetragen haben.Am selben Tag wurden in einem Ort in der Nähe der Stadt San José mehrere Paramilitärs auf Maultieren gesehen, die sich den Bewohnern der Region näherten und mit Notizbüchern in der Hand geheimnisvolle Berichte aufschrieben. Zu solchen Zählungen kam es in mehreren Dörfern der Gemeinde San Jose de Apartadó.

Am Donnerstag, den 15. Dezember, wurden Mitglieder unserer Gemeinschaft von einem bekannten Paramilitär der Region angesprochen, der erklärte, der Besuch des Verteidigungsministers in der Friedensgemeinschaft könnte uns teuer zu stehen kommen.

Am Sonntag, den 18. Dezember, drangen mehrere Rinder der Paramilitärs, die das benachbarte Grundstück erworben hatten, in das Land La Cumbre, das unserer Friedensgemeinschaft gehört, im Dorf Mulato ein. Diese Tiere schädigten die Bohnen- und andere Nahrungsmittelkulturen von Mitgliedern unserer Friedensgemeinschaft. (…)

Am Donnerstag, den 29. Dezember, drohte ein bekannter Paramilitär, unsere Friedensgemeinde werde ausgelöscht. Es gebe die Möglichkeit, ein oder zwei führende Persönlichkeiten unserer Gemeinschaft zu liquidieren, oder man könnte den Mitgliedern der Gemeinde Geld und Annehmlichkeiten anbieten, damit sie diesen Lebensprozess aufgeben.

Wir danken den Menschen und Gemeinschaften aus verschiedenen Ecken der Welt, die uns mit ihrer Großzügigkeit und ihren menschlichen Qualitäten stärken. Ungeachtet verschiedener kulturellen Realitäten geben sie uns die moralische Kraft und Ausdauer, ohne die wir unseren Weg nicht weiterbeschreiten könnten.

Comunidad de Paz de San José de Apartadó, 30. Dezember 2022

Verlogene Verfolgungsstrategien

Unsere Friedensgemeinschaft wendet sich erneut an die Öffentlichkeit, um auf neue Übergriffe auf die Zivilbevölkerung, auf unsere Umwelt und auf unsere Friedensgemeinde hinzuweisen.

(Vorbemerkung der Übersetzung: Diese Mitteilungen aus San José beginnen mit zwei Einträgen, die auf März und Mai datiert sind und deren Aktualitätsbezug uns nicht klar ist. Wir fassen beide Einträge, die sich mit juristischen Auseinandersetzungen der Friedensgemeinde befassen, unter Auslassung zahlreicher Details zusammen. Auch später datierte, aktuelle und sehr lange Einträge kürzen wir in der Hoffnung, damit zur Lesbarkeit beizutragen.)

Es geht uns dabei um die folgenden Tatsachen:

(Der auf den 11. März 2022 datierte Eintrag befasst sich mit den bis ins Jahr 2004 zurückreichenden juristischen Auseinandersetzungen zwischen dem Jesuitenpater Javier Giraldo, einem alten Mitstreiter der Friedensgemeinde, und der Armee. Der Pater hatte in früheren Jahren gegen den mittlerweile nicht mehr aktiven General Rito Alejo del Rio wegen zahlreicher Übergriffe seiner Truppen – angefangen von Korruption über Verschwindenlassen bis zu Versuchen, die Friedensgemeinde zu vernichten – zahlreiche Klagen geführt. Neuerdings jedoch ist gegen den Pater ein Prozess eröffnet worden, und zwar von den Organen der Sondergerichtsbarkeit JEP (Jurisdicción Especial por la Paz), die 2016 im Zuge des Friedensabkommens zwischen der kolumbianischen Regierung und der Farc-Guerrilla eingerichtet wurde. Die JEP verspricht den Übeltätern beider Seiten, sofern sie gestehen, milde Strafen und soll so zur Befriedung Kolumbiens vor allem im ländlichen Raum beitragen. Dass die JEP nun gegen den Pater vorgeht, ist dem Verfasser des Blogs Beleg dafür, dass auch die JEP genauso korrupt ist wie die reguläre Justiz Kolumbiens, über die sich die Friedensgemeinde seit Jahren enttäuscht zeigt.

Auch der zweite, auf den 6. Mai datierte Eintrag befasst sich mit der Gerichtsbarkeit. Nach Ansicht des Blogs lässt sich die Justiz von den falschen Geständnissen früherer Täter – in diesem Fall geht es um Ex-Farc-Leute – hinters Licht führen und behandelt sie deshalb viel zu milde.)

März 2022
Der Verfasser schildert einen Fall in dem auf Anordnung der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (GEP) ein Verfahren gegen Pater JAVIER GIRALDO, S.J., der Friedensgemeinde eingeleitet wurde, der aber– wie der selbst versichert – unschuldig ist. Ihm wird Paramilitarismus und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Hintergrund ist, dass er den Kriegsdienst verweigert hat und Nachforschungen zum Thema Korruption im kolumbianischen Justizsystem angestellt hat. (Übersetzt und zusammengefasst, die Übers.)

Dieses Vorkommnis zeigt, dass das GEP, (eine Organisation, die ihren Ursprung im Friedensabkommen von 2016 hat und die Erwartungen an eine Verringerung der Straflosigkeit geweckt hatte d. Übers.), in das gleiche Schema wie immer geraten ist, da sie nachsichtig gegenüber Kriminellen und feindselig und verfolgend gegenüber Whistleblowern und Opfern war.

Freitag 6. Mai 2022
Auch an diesem Tag findet wieder ein Gerichtsprozess statt, der sich nach Angaben des Blog Verfassers von Unterstellungen und falschen Zeugnissen gegen unschuldige Angeklagte wendet. (Übersetzt und zusammengefasst, die Übers. )

Am Dienstag, 26. Juli sprach ein bekannter Paramilitär aus der Gegend ein Mitglied unserer Friedensgemeinde an und drohte, dass die Friedensgemeinde früher oder später ausgerottet werde. Diese Ankündigung wurde in den letzten 25 Jahren unzählige Male wiederholt: Zuerst von den Mitgliedern der Armee, die in unseren Dörfern Verbrechen begingen, dann auch von den paramilitärischen Gruppen, die sich in der Gegend vermehrten, und in jüngerer Zeit auch von einem Vertreter von Fedecacao (dem Verband der Kakao-Farmer, Anm. d. Ü.) in der Region. (Der Beitrag an diesem Tag enthält weitere Schilderungen von Verleumdungen, Diebstahl, Bedrohungen gegen Mitglieder der Friedensgemeinde, Anm. d. Ü.)

Am Freitag, 29. Juli, erfahren wir, dass ein bekannter Paramilitär-Führer der Region die Bevölkerung der Gemeinde La Unión unter Druck setzt, damit sie ihre Kinder in Schulen außerhalb der Friedensgemeinde schicken. Gleichzeitig werden die Erwachsenen aufgefordert, sich an den Juntas de Acción Comunal zu beteiligen (in der Verfassung vorgesehene Mitbestimmungsgremien auf lokaler Ebene, die jedoch in der Praxis oft von den örtlichen Machthabern kooptiert sind, weshalb die Friedensgemeinde nichts damit zu tun haben will, Anm. d. Ü.). Außerdem sind die Bauern verschiedener Dörfer der Gemeinde San José verzweifelt, weil die Paramilitärs ihnen verboten haben, Mais, Reis und andere Produkte anzubauen; bei Zuwiderhandlung drohen die Paras Geldbußen zwischen 5000 und 10 000 Pesos an (ein bzw. zwei Euro. Leider erwähnt der Blog die Hintergründe dieses Verbotes der Subsistenzlandwirtschaft nicht. Vermutlich sollen die Bauern cash crops, also vermarktungsfähige Produkte, anbauen und ihre Lebensmittel, statt sie selber anzubauen, kaufen; von beidem würden die Paras profitieren. Anm. d. Ü.).

An demselben Tag ist es im Dorf Alto Joaquín, in der Gemeinde Tierralta (Departement Córdoba) offenbar zu Kämpfen zwischen Truppen der Armee und Paramilitärs gekommen. Diese Konfrontation ereignete sich in der Nähe der Felder von Mitgliedern unserer Friedensgemeinschaft. Nach den Kampfhandlungen verboten das Militär und die Paramilitärs den umliegenden Bauernfamilien zwei Tage lang, ihre Häuser zu verlassen. Damit waren sie praktisch gefangen und konnten nicht auf den Feldern arbeiten, die einzige Lebensgrundlage der Familien.

Am Donnerstag, 4. August, haben wir erfahren, dass ein Mitglied des in unserer Gegend stationierten Minensuch-Bataillons immer wieder junge Mädchen aus dem Ortsteil La Unión zu verführen versucht. Der Soldat mit dem Spitznamen „Caballo“ (Pferd, Anm. d. Ü.) lockt die Heranwachsenden mit Geld oder Mobiltelefonen an und missbraucht sie.

Am Montag, 15. August, wurde der Leichnam von Cristobál Mesa mit Spuren schwerer Gewaltanwendung nahe dem Stadtzentrum von San José de Apartadó gefunden. Cristóbal, der unserer Friedensgemeinde nahestand, war zuvor schon häufig bedroht worden, sodass Schutz für ihn beantragt worden war. Die Stelle, an der er gefunden wurde, liegt in einer Gegend, die vollständig unter der Kontrolle der Paramilitärs steht, obwohl sich in der Nähe sowohl eine Militärbasis als auch eine Polizeiwache befindet. – Außerdem fällt auf, dass am selben Tag ein anderer junger Mann, Juan Camilo Higuita Usaga, ebenfalls aus dem Gebiet San José ertrunken aufgefunden wurde.
Am Samstag, 20. August, hat Staatspräsident Gustavo Petro (der im Juni als erster linker Politiker gewählt und Anfang August das höchste politische Amt Kolumbiens angetreten hatte, Anm. d. Ü.) formell das Kommando der Streitkräfte Kolumbiens übernommen. In seiner Antrittsrede kündigte Petro ein Bündnis zwischen den Streitkräften und der Bauernschaft an; die Armee könne beispielsweise Bewässerungssystem und Brücken bauen. Diese Idee löst allerdings in der Bevölkerung große Sorge aus, denn das würde eine ständige Präsenz der Streitkräfte auf dem Land bedeuten. Eine Allianz zwischen dem Militär und dem zivilen Sektor hat ja letztlich auch zum Paramilitarismus geführt, der laut den Abschlussberichten der Wahrheitskommission für 47% der Opfer des sozialen und bewaffneten Konflikts verantwortlich ist.

Wir als Friedensgemeinde bitten den neuen Präsidenten, diese falsche Strategie zu überprüfen. Sie ist fatal für die Zukunft unseres Landes, und sie ist ein bedauerlicher Missgriff unter all den sozialen Veränderungen, die sich die neue Regierung vorgenommen hat. (Gekürzt, Anm. d. Ü.)

Montag 22.August 2022
In den letzten Tagen wurden 2 Mitglieder unserer Friedensgemeinde ausgeraubt. Gestohlen wurden Dinge des täglichen Bedarfs, Werkzeuge und private Utensilien. Die Paramilitärs zeigen in dieser Gegend zur Zeit eine hohe permanente Präsenz , fahren die Straßen entlang nähern sich den zivilen Häusern. Sie sind mit Funkgeräten und Handfeuerwaffen ausgestattet und hinterlassen die geplünderten Häuser.
Alle diese Aufzeichnungen sollen unser Leiden dokumentieren, aber gleichzeitig auch unsere Hoffnung zeigen, denn wir sind überzeugt, dass die Erinnerung an unsere Brüder und Schwestern, die als Märtyrer gestorben sind, uns stärkt und dass ihr Opfer nicht umsonst war.

Friedensgemeinde San José de Apartadó, 25. August 2022

Wir müssen Golgatha noch einmal erleben

In dieser Zeit, in der sich die christliche Welt an das Leiden Christi erinnert, pflegen wir als Friedensgemeinschaft eine Tradition, die bis in die ersten Jahre ihres Bestehens zurückreicht. Besonders am Karfreitag fühlen sich zahlreiche Mitglieder durch eigene Trauer um verstorbene Familienmitglieder und Freunde tief mit der Passion, dem Leiden und dem Tod Christi verbunden. In diesem Jahr stiegen wir vom ökologischen Dorf Rigoberto Guzmán ab, durch die Dörfer La Unión und El Cuchillo, bis wir unser Gemeindezentrum San Josecito erreichten. Wir erinnerten uns erneut an die Grausamkeit und Barbarei zu der unser kolumbianischer Staat fähig ist, an seine Foltermethoden und Lügen, die sich nicht von Pontius Pilatus und seinen römischen Soldaten oder den mörderischen Wachen des jüdischen Sanhedrin unterscheiden.

Auf unserem Weg des Leidens und des Schmerzes, den einige unserer Brüder durchmachten, fühlten wir, dass ihr Leben und ihr Vermächtnis in uns mit neuer Vitalität wiederbelebt wurden.

Wieder einmal wendet sich unsere Friedensgemeinschaft an die Menschheit mit den Schilderungen der Taten, die von Paramilitärs und der Armee begangen wurden:

Am Sonntag, den 3. April 2022, wurden im Stadtzentrum des Dorfes La Unión, im Corregimiento von San José de Apartadó, zwei lokale Kaufleute vom paramilitärischen Adolfo Guzmán bedroht. Dieser Paramilitär ist verantwortlich für die Versorgung von Jugendlichen und Minderjährigen mit psychoaktiven Substanzen und versucht Kinder aus der öffentlichen Schule des Dorfes, davon abhängig zu machen. Mehrmals hat er diese Substanzen in die Schule gebracht.

An mehreren Tagen (Dienstag, den 5. April 2022, Donnerstag, den 7. April 2022, Samstag, den 9. April 2022) wurden Menschen in typischer Militärkleidung in Verstecken entdeckt, die das Leben im Dorf beobachteten.

Am Freitag, den 8. April 2022, konnte ein Mitglied unserer Gemeinde im Dorf La Unión die Anwesenheit von Militärtruppen feststellen, die in einer Kakaoernte stationiert sind, die er derzeit verwaltet. Das Militär beschädigte nicht nur Kakaobäume, sondern zerstörte auch reife Kakaokolben.

Am Freitag, dem 15. April 2022, während sich unsere Gemeinschaft darauf vorbereitete, die dritte Station des Kreuzweges in dem Gebiet durchzuführen, in dem am 17. Mai 1992 ein grausames Massaker von der Nationalarmee verübt wurde, war sie überrascht von der Anwesenheit von Militärpersonal, das genau den Raum besetzte, in dem das Verbrechen ausgeführt wurde. Die Militärtruppen lagerten genau dort, wo 3 unserer Bauern aus dem Dorf La Unión gefoltert, an die Bäume gefesselt, zerrissen und getötet wurden. Die Soldaten, die an diesem Karfreitag in diesem Erinnerungsraum anwesend waren, zuckten weder vor den Geschichten zurück, noch kam es ihnen in den Sinn, sich dafür zu schämen, Mitglieder eines so kriminellen Staates zu sein, der alle seine Verbrechen in absoluter Straflosigkeit verübt. Wir empfinden dies als einen weiteren Affront gegen unsere Würde und unser Gedächtnis.

Wann immer wir die Erinnerung an unsere Leiden erneuern, erneuern wir auch unsere Gefühle der Dankbarkeit gegenüber vielen Menschen und Gemeinschaften in Kolumbien und der Welt, die spirituell mit uns gehen und uns mit belastbarer Energie erfüllen.

Comunidad de Paz de San José de Apartadó, 18.April 2022

„Bewaffneter Ausstand“ – eine Schande für die Regierung

Erneut wendet sich unsere Friedensgemeinde an die Öffentlichkeit, um neue Tatsachen bekanntzugeben, die das gemeinsame Vorgehen von Paramilitärs und Staat beweisen.

Unsere Region befindet sich weiterhin in einem Teufelskreis, in dem das soziale und bäuerliche Leben unterdrückt wird, in dem bedroht, gefoltert und getötet wird. Es ist stets der Paramilitarismus, der sich durchsetzt und dem die gesamte Bevölkerung gehorchen muss – und wer das nicht tut, muss die bitteren Konsequenzen tragen.

Wie lange wird die Regierung noch zulassen, dass diejenigen, die das Land für einen bescheidenen Lebensunterhalt ihrer Familien bewirtschaften, weiterhin bespitzelt, bevormundet, beherrscht werden? – Es ist eine Schande, dass die Regierungen in Bogotá, während sie im Amt sind, hunderttausende von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht zulassen, darunter auch die Morde an Führungspersönlichkeiten in den letzten Monaten. Diese Haltung führt dazu, dass die Opfer dem Vergessen anheimgegeben werden, während die Täter in den Genuss absoluter Straflosigkeit kommen. Was für ein Schmerz!

Der Paramilitarismus ist nach wie vor die größte Macht, die stets bereit ist, die Drecksarbeit zu erledigen, die die staatlichen Institutionen nicht selbst machen können. Urabá (die an den Atlantik grenzende Region des Departements Antioquia, in der San José de Apartadó liegt, Anm. d. Ü.) ist ein Beispiel dafür, weil hier die 17. Heeresbrigade und die Polizei die Garanten und Verbündeten der Paramilitärs waren. Bei vielen Gelegenheiten operierten sie gemeinsam, um Massaker in Urabá und auf dem Land zu verüben, deren Opfer sich oft als „falsos positivos“ herausstellten (Die kolumbianische Armee hat, wie sich vor Jahren herausstellte, bewusst nichtkämpfende Zivilisten ermordet und die Leichen dann als die von getöteten Guerrilleros ausgegeben – ein Skandal, der unter dem Stichwort „falsos positivos“ in die kolumbianische Geschichte eingegangen ist, Anm. d. Ü.).

Heute sieht es nicht so aus, als ob diese Allianzen ein Ende hätten. Denn die Paramilitärs, die sich AGC nennen, haben die absolute Kontrolle über das gesamte Gebiet. Sie koexistieren sogar mit den staatlichen Ordnungskräften in San José, Nuevo Antioquia, Piedras Blancas und anderen Dörfern in Urabá, und es besteht nicht das geringste Interesse, diese paramilitärischen Strukturen aufzulösen. (Die AGC – Autodefensas Gaitanistas de Colombia – sind eines der mächtigsten Drogenkartelle des Landes. Früher Los Urabeños und Clan Úsuga genannt, wird die Stärke der AGC auf 3000 Mann geschätzt. Die Gruppe, die auch Clan del Golfo genannt wird, weil der Golf von Urabá ihre ursprüngliche Heimat ist, spielt eine entscheidende Rolle im weltweiten Kokain-Geschäft; sie unterhält Handelsverbindungen mit der Organisierten Kriminalität in Mexiko ebenso wie mit der italienischen. Als im Oktober 2021 ihr Chef Dario Antonio Úsuga David, genannt Otoniel, festgenommen wurde, triumphierte Präsident Iván Duque, nun seien die Tage der AGC gezählt. Aber ob geschwächt oder nicht – für die Friedensgemeinde hat sich an der Vorherrschaft der AGC nichts geändert. Anm. d. Ü.)

Die Präsidentschaftswahlen stehen vor der Tür (erster Wahlgang am 29. Mai, Stichwahl am 19. Juni wahrscheinlich, Anm. d. Ü), und die verschiedenen gemeinsamen Aktionen der Akteure, die unser Land regiert, verkauft und ausgeblutet haben, sind offensichtlich. Sie suchen nach einer Möglichkeit, sich weiterhin an der Macht zu halten, und setzen dabei auf die Korruption in den bestehenden Kontrollorganen der verschiedenen staatlichen Institutionen. Hoffentlich setzen sich die guten Ideen für ein besseres Land durch, denn es ist Zeit für einen Wechsel dieser Diktatur, die das Land nur zerstört und ruiniert hat.

Die neusten Ereignisse bei uns:

Am Karfreitag, 15. April, fand im Dorf La Esperanza in der Gemeinde San José eine Veranstaltung statt, bei der als „El Cochero“ bekannte Paramilitär inmitten einer großen Menschenmenge seine Hochzeit feierte. Diese Figur kam vor einiger Zeit als Paramilitär in das Dorf El Porvenir, um dort die Kontrolle auszuüben.

Am Freitag, 22. April, fand im Dorf La Unión, im Corregimiento (Landkreis) von San José de Apartadó, ein Tag der kollektiven Arbeit zur Instandsetzung der nicht asphaltierten Straße statt, der von der örtlichen Junta de Acción Comunal (Mitbestimmungsgremium auf kommunaler Ebene, meist von den örtlichen Herrschenden kooptiert, Anm. d. Ü.)  gefördert wurde und an dem Mitglieder der 17. Heeresbrigade teilnahmen. Dabei verlas ein Vertreter der Armee die öffentliche Erklärung unserer Friedensgemeinde vom 18. April, in der wir die enge Zusammenarbeit von Paramilitärs und der Armee angeprangert und Beweise dafür vorgelegt hatten. Der Uniformierte sagte spöttisch, wir würden sicherlich auch diesen Tag der kollektiven Arbeit anprangern. Nebenbei stellte sich heraus, dass der Uniformierte unsere Berichte und Beschuldigungen schlicht zurückweist. Er sagte, er habe die Ladenbesitzer von La Unión nach Hinweisen auf den Paramilitär mit dem Aliasnamen Adolfo Guzmán befragt – aber wie kann man die Opfer in Anwesenheit des Täters befragen? – Denn Guzmán befand sich während der Befragung ganz in der Nähe der Militärs und der Händler, wie wir gesehen haben. Guzmán hatte am 3. April in La Unión Ladeninhaber bedroht (…) Guzmán wohnt in einem Haus neben den Einrichtungen der Armee, die dem Minensuch-Bataillon Nr. 6 angehören. Aber angeblich kennt ihn niemand – am wenigsten die Militärs. (…)

Am Sonntag, 24. April, als sich eine Kommission unserer Friedensgemeinschaft in das Dorf La Resbalosa begab, wurde festgestellt, dass dort mehrere bekannte Paramilitärs anwesend waren (…).

Ebenfalls am Sonntag, 24. April, wurde unsere Friedensgemeinde in dem Dorf La Resbalosa über Drohungen eines Paramilitärs gegen die Lehrerin des Dorfes informiert. Der Paramilitär sagte der Lehrerin, ihre Tage seien gezählt. Sie wurde mittlerweile an eine andere Schule versetzt.

Am Montag, 25. April, fanden Mitglieder unserer Friedensgemeinde bei der Ausbesserung der Gemeindestraße in dem schlammigen Gebiet des Dorfes Mulatos einen Sprengsatz, der neben der Straße angebracht war. Dem schlechten Zustand des Sprengsatzes nach zu urteilen, hatte er schon viele Jahre dort gelegen. Solche Minen werden angeblich vom Minenräumungs-Bataillon Nr. 6 entschärft. Offenbar sind Millionen von Dollar in diese Operationen investiert worden, ohne dass freilich bisher nennenswerte Fortschritte bei der Minenräumung erzielt wurden. Wir glauben, dass die Präsenz des Bataillons bei uns ganz anderen Interessen dient. Ihre soziale Integration ist eher ihr Ziel als die Suche nach Sprengkörpern.

Ebenfalls am Montag, 25. April, wurde unsere Friedensgemeinde im Dorf Mulatos (…) auf die ständige Anwesenheit des Paramilitärs alias Gripin bei Versammlungen und anderen Aktivitäten im Gemeinschaftshaus aufmerksam. Dieser Paramilitär, der in der Gegend den Ton angibt, wohnt in dem Haus im Dorf Mulatos Medio.

Am Donnerstag, 5. Mai, erhielten wir die Information, dass die Paramilitärs einen sogenannten bewaffneten Ausstand ausgerufen hatten, der vom 5. bis zum 10. Mai dauern sollte.  Am Nachmittag wurden der Handel und der Verkehr eingestellt.  Eine Gruppe von Schülern aus Arenas Altas, die sich mit anderen Schülern in La Unión treffen wollten, wurde von Paramilitärs abgefangen, die die jungen Leute aufforderten, in ihre Häuser zurückzukehren. Am Freitag, 6. Mai, zeigte sich, dass der von den Paramilitärs angeordnete Ausstand befolgt wurde. Einkaufszentren, Büros, der Verkehr und alle Aktivitäten im Allgemeinen waren auf Befehl der Paramilitärs lahmgelegt, Autos gingen in Flammen auf. (Die AGC hatte den „bewaffneten Ausstand“ landesweit aufgerufen, weil ihr im vergangenen Herbst festgesetzter Führer „Otoniel“, siehe oben, an die USA ausgeliefert wurde. In elf der 32 Departements wurden die Anordnungen der Paras mehr oder weniger strikt befolgt, sechs Menschen wurden getötet, 180 Autos wurden beschädigt, die meisten davon angezündet. – Dass die AGC die Macht hat, solche Aktionen anzuordnen und durchzusetzen, dementiert nach Meinung von Beobachtern die triumphierende Aussage von Präsident Duque, die AGC seien durch Otoniels Festnahme am Ende. Anm. d. Ü.)

Wir fragen uns: Wo sind die staatlichen Sicherheitskräfte? Was ist aus der Rechtsstaatlichkeit geworden? Ist das nicht der Beweis, dass der Staat von den Mafias und ihren politischen Helfershelfern gekapert ist? – Es ist offensichtlich, dass uns die Waffen nicht befreien, sondern im Gegenteil versklaven.

Am Freitag, 6. Mai, wurde bekannt, dass zwei Paramilitärs am Tag zuvor in La Unión den Händlern befahlen, ihre Geschäfte zu schließen, und die Bevölkerung aufforderten, den geplanten kommunalen Arbeitseinsätze abzusagen.  Auch persönlichen Aktivitäten außerhalb des Hauses, also etwa Feldarbeit, untersagten sie. Diese beiden Paramilitärs machen ungeniert ihre Runden im Stadtzentrum von La Unión und stießen ihre Verbote und Drohungen aus. Dabei gibt es in La Unión   eine starke Militärpräsenz. Die Armee hatte ja sogar die Gemeinschaftsarbeiten mit der Junta de Acción Comunal geplant. Aber sie zog es vor, sich der paramilitärischen Kontrolle zu beugen.

Am Freitag, 6. Mai, waren im Stadtgebiet von San José die Geschäfte geschlossen. Die Gemeinde war eine Geisterstadt, kein einziger Soldat, kein einziger Polizist war dort zu sehen, nicht einmal in den Militärgarnisonen. Die Soldaten und Polizisten sind eingesperrt.  Das alles beweist, wie nachsichtig die Regierung den Paramilitärs gegenüber ist. Die Regierung erlaubt ihnen einfach die Kontrolle und Unterwerfung der Zivilbevölkerung. Sodass San José und seine umliegenden Dörfer zu einem Tummelplatz für die Paramilitärs und die Sicherheitskräfte geworden sind, die ungestört und in aller Ruhe und Freiheit ihre Verbrechen verüben können.

Jedes Mal, wenn wir uns an unsere Leiden erinnern, erneuern wir auch unsere Dankbarkeit gegenüber den vielen Menschen und Gemeinschaften in Kolumbien und im Ausland, die im Geiste an unserer Seite stehen.

Friedensgemeinde San José de Apartadó, 6. Mai 2022