Wir, die Friedensgemeinde von San José de Apartadó, erheben erneut unsere Stimme, um auf die dauernde Bedrohung für die Bevölkerung unseres Umfelds und für uns selbst aufmerksam zu machen.
In den Tagen nach dem Verbrechen (der Mord an zwei Angehörigen der Friedensgemeinde, siehe weiter unten, Anm. d. Ü.) kursierten Audios, in denen die Angreifer ihren Willen zum Ausdruck brachten, ihre Absichten auf dem Gebiet von Las Delicias mit Gewalt durchzusetzen. Einer von ihnen war Erien Tuberquia, Mitglied der Junta Comunal von La Esperanza (die Juntas der Acción Comunal sind in der kolumbianischen Verfassung verankerte Mitwirkungsgremien auf lokaler Ebene, die in der Praxis allerdings oft von den örtlichen Machthabern gekapert wurden und deren Interessen vertreten, Anm. d. Ü.). Er erklärte:
„Leute, ich habe euch von Anfang an gesagt, als wir uns zur Gegenwehr entschieden, ich weiß nicht, wie viele bereit sind, ins Gefängnis zu gehen, wie viele bereit sind, bis zum Ende zu kämpfen. Wenn wir uns den Gegebenheiten stellen wollen, damit die nationale Regierung auf uns hört, nun, Freunde, dann müssen wir leider Blut vergießen (…) wenn die anderen Dörfer sich nicht darum scheren, dann lasst uns kämpfen, um sie dorthin zu bringen, mit Blut und Feuer, wie sie dort sagen. Aber dann sagen uns alle: Lasst uns nichts tun, lasst uns nichts tun, lasst uns nichts tun und wir tun nichts. Das ist doch ganz einfach, Leute, nur wenn wir aufs Ganze gehen, wird die Regierung möglicherweise mit uns reden.“
Ein anderes Mitglied der Junta von La Esperanza, Benjamín Higuita, sagte:
„Wir haben Kettensägen und wir haben Personal, und wenn wir uns heute auf das stürzen, was getan werden muss (…), raus mit der Friedensgemeinde, raus mit der Friedensgemeinde, wir wollen sie nicht hier haben, wir wollen sie nicht, das ganze Dorf La Esperanza sagt; raus mit der Friedensgemeinde, raus“.
Fredy Sánchez ist ebenfalls Mitglied der Junta von La Unión und außerdem „firmante de paz“ (Anm. d. Ü.: wörtlich: Friedensunterzeichner; gemeint sind frühere Angehörige der Guerrilla, die sich dem 2016 geschlossenen Friedensvertrag zwischen der Regierung und der Guerrilla-Gruppe FARC angeschlossen haben. Unter welchem Druck sie oft stehen, beweist der Umstand, dass seit 2016 rund 400 dieser firmantes de paz umgebracht worden sind, so eine Pressemitteilung des kolumbianischen Senats. Der erwähnte Fredy Sánchez hat sich dem Druck offenbar gebeugt, indem er für die Feinde der Friedensgemeinde Partei ergreift.) Er sagte:
„Diese Bastarde geben mir nichts, es ist mir egal, wenn sie nicht mit mir reden, ich sage, lasst uns zu einem Ende kommen hp (Das Kürzel im Text steht für „hijos de puta“, Hurensöhne, wird aber auch im Sinne von ‚verdammt‘ oder einem ähnlichen Schimpfwort verwendet, Anm. d. Ü.) und wenn wir wütend werden, (…) (hier folgen emotionale Äußerungen Anm. d. Ü.) (…) lasst uns aggressiv werden und wir werden sehen, wie weit wir kommen (…) das kann dazu führen, dass es sogar Tote gibt“. (Der Post enthält noch zwei weitere Wortmeldungen ähnlich bedrohlichen und ähnlich vulgären Inhalts, Anm. d. Ü.).
Am Dienstag, 19. März, (im Blog wurde dieser Tag aus verständlichen Gründen vorgezogen, ist also absichtlich nicht chronologisch, Anm. d. Ü.) wurden gegen Mittag zwei Mitglieder unserer Friedensgemeinde, Nalleli Sepúlveda, 30 und Edinson David, 14, auf der Farm Las Delicias im Dorf La Esperanza ermordet. Nalleli war die Koordinatorin für Humanitäre Angelegenheiten (wörtlich espacio humanitario, Anm. d. Ü.) zusammen mit ihrem Partner Diego Ceballos. Edinson ist der Bruder von Diego und Mitglied des Teams, das für die Farm verantwortlich ist. Dieses Verbrechen ist der bisherige Höhepunkt eines ganzen Prozesses von zunehmend gewalttätigen Drohungen und Aggressionen, die bereits in unseren früheren Berichten angeprangert wurden. Mit diesem Verbrechen erhöht sich erneut die Zahl der Morde an Mitgliedern unserer Friedensgemeinde. Wir haben bereits mehrere Hundert anzeigen müssen, ebenso über 1500 Vorfälle, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft wuren und die vor verschiedene internationale Gerichte gebracht wurden.
Kaum war der Mord an Nalleli und Edinson begangen, beeilten sich die staatlichen Institutionen, die Straffreiheit vorzubereiten. Zunächst wurden keine Ermittlungen aufgenommen ‒ erst neun Tage später begaben sich die Kriminaltechniker auf die Farm, um „Beweise zu sichern“ ‒ widersinnig, weil in der Zwischenzeit eventuelle Spuren hätten beseitigt werden können.
Gleichzeitig bedienten sich die Ermittlungsbehörden einer Friedensunterzeichnerin und ihrer Anschuldigungen, um ein kriminelles Komplott zu schmieden und ein „Verbrechen aus Leidenschaft“ zu fingieren, was nachträglich die Würde des Opfers besudelt. Es wurde behauptet, dass weder Nalleli noch Edinson Mitglieder der Friedensgemeinschaft gewesen seien und dass Nallelis Mann sie beim Sex mit ihrem Schwager ertappt und deshalb beschlossen habe, sie zu töten. Der Versuch, den Mord als Verbrechen aus Leidenschaft darzustellen, scheitert schon deswegen, weil sich Nallelis Mann Diego zum Zeitpunkt der Tat um seinen Vater kümmerte, der in Apartadó im Krankenhaus lag. Wenn nicht einmal die elementarste Logik eines Komplotts die Täter entlastet, so trägt sie doch dazu bei, die enorme Perversität derjenigen zu enthüllen, die das Verbrechen geplant hatten.
(Anm. d. Ü.: Da die Friedensgemeinde seit Anfang des Jahres nichts gepostet hat, erwähnt sie im jetzigen Bericht eine Reihe von bedrohlichen Beobachtungen und Vorfällen, die zum Teil ein Vierteljahr zurückliegen und die wir hier zusammenfassen: Wie früher schon geht es um Paramilitärs, die in Camouflage-Uniform und mit Walkie-Talkies auf den Ländereien der Friedensgemeinde auftauchen, ähnlich wie reguläre Soldaten oder um Landvermesser der Unidad de Restitución de Tierras, einer Behörde, die im Konflikt illegal enteignetes Land identifizieren und restituieren soll und der die Friedensgemeinde misstrauisch gegenübersteht. Ferner um Versuche der Paras, Jugendliche auf ihre Seite zu ziehen, indem sie sie zu Marihuana-Konsum einladen. – Im März scheint der Druck auf die Friedensgemeinde und ihr Land jedoch plötzlich erheblich stärker geworden zu sein.)
Am Donnerstag, 29. Februar, versuchte César Jaramillo, ein ehemaliger Beamter des Bürgermeisteramtes von Apartadó und des Kakaopflanzer-Verbandes Fedecacao, zusammen mit Leuten aus dem Dorf La Esperanza eine illegale Straße durch unsere Farm Las Delicias zu öffnen. Dazu beschädigten sie Tore und Zäune.
Am Samstag, 2. März, drangen Personen aus dem Dorf La Esperanza in unser Grundstück Las Delicias mit einem Fahrzeug ein. Sie durchschnitten und beschädigten die Drahtzäune. Wir wehren uns seit Langem gegen den Bau von Straßen, die durch unsere Grundstücke führen. Dafür haben wir viele Gründe, angefangen damit, dass sie keiner demokratischen Planung unterliegen, dass sie ferner anti-ökologischen, naturschädlichen Zwecken dienen, dass sie vom Paramilitarismus mit Unterstützung der Armee vorangetrieben werden und dass für die Vorhaben nicht einmal die elementarsten behördlichen Genehmigungen vorliegen.
Am Sonntag, 3. März, versuchte eine Gruppe von Personen unter der Führung von César Jaramillo und der Junta de Acción Comunal von La Esperanza, unsere Zäune und Tore auf unserem Privatgrundstück zu zerstören. Bei ihrem Versuch beschimpften sie unsere Gemeinde mit allen möglichen Beleidigungen und Verleumdungen, und sie kündigten an, dass sie ihr Vorhaben am nächsten Tag durchführen würden. Es folgten verbale und psychologische Aktionen und Aggressionen gegen unsere Gemeinde, während wir schwiegen.
Am Montag, 4. März, drangen eine nicht identifizierte Person und Mitglieder der Junta de Acción Comunal des Dorfes La Esperanza mit Motorrädern auf unser Privatgrundstück Las Delicias vor und schauten sich um, ohne sich auszuweisen.
Am gleichen Tag besuchten Vertreter der Defensoría del Pueblo (eine hoch angesiedelte Ombudsmann-Behörde auf nationaler Ebene, Anm. d. Ü.), des Bürgermeisters von Apartadó und weitere Beamte der nationalen Regierung das Dorf La Esperanza, um die Übergriffe gegen unsere Gemeinde zu stoppen. Trotzdem hat die Junta Comunal weiterhin unseren Grundbesitz unbefugt betreten und verletzt und erneut Tore zerstört, die nach fünf Tagen Gemeinschaftsarbeit wieder installiert wurden. Unsere Friedensgemeinde reagiert auf solche Gewalt niemals mit gewalttätigen Aktionen, und sie zeigt solche Vorfälle nie den staatlichen Institutionen an, weil die sowieso nie einem anderen Zweck gedient haben als dem, bestimmte politische Interessen zu begünstigen. Unsere Gemeinde hat jedes zerstörte Tor und jeden Zaun mühsam wieder aufgebaut.
Am Mittwoch, 6. März, betraten die Junta de Acción Comunal und die Vereinigte Pfingstkirche von Kolumbien des Dorfes La Esperanza unter Führung von César Jaramillo und anderen obskuren Kräften unseren Besitz „Las Delicias“, zerstörten unsere Tore, schnitten den Draht unserer Koppeln durch und ignorierten unsere Anweisung, keine Fahrzeuge durch unser Grundstück fahren zu lassen. Dies war das fünfte Mal in dieser Woche, dass wir Aggressionen auf unserem Grundstück ertragen mussten. Wir stellen klar, dass wir den Reitweg, der durch unseren Hof führt, nie blockiert haben, im Gegenteil, wir halten die Tore offen, die schon immer bestanden haben, um den freien Durchgang der Menschen und ihrer Tiere mit den Produkten des Feldes zu gewährleisten.
Wir sind nicht verantwortlich für irgendeine Art von Zwangsumsiedlung in der Zukunft, denn wir haben zu keinem Zeitpunkt jemanden dazu genötigt, wie unsere Gegner in den Medien und sozialen Netzwerken behauptet haben. Die Menschen bewegen sich ganz normal, sei es auf Motorrädern oder auf Pferden, ohne dass sie behindert werden (…). Wir erklären öffentlich, dass wir gegen die Durchfahrt von Fahrzeugen durch unsere Privatgrundstücke auf illegalen Wegen und gegen den Bau von Straßen sind, deren Bau sich den legalen und demokratischen Verfahren entziehen. (…)
Im Laufe der Zeit haben wir festgestellt, dass sich rund um die Junta de Acción Comunal des Dorfes La Esperanza, im Bündnis mit César Jaramillo und der 17. Heeresbrigade, eine Bewegung gebildet hat, die darauf hinarbeitet, dass wir als Friedensgemeinde verschwinden. Dabei geht es um Projekte, die zwar mit den Etiketten „Fortschritt“ und „Entwicklung“ versehen sind, aber in Wahrheit andere Ziele verfolgen. Dies führt uns zu der Annahme, dass dieses Bündnis dafür verantwortlich wäre, wenn einem Mitglied unserer Gemeinde etwas zustößt. (…)
Am Mittwoch, 6. März, verleumdete César Jaramillo in den sozialen Netzwerken die Friedensgemeinde und die Bauernvereinigung von San José de Apartadó ACASA schwer. Ihm zufolge wurden beide von der Guerrilla gegründet. Es ist die gleiche Sprache wie die des ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe, der alle sozialen Organisationen verurteilte.
An selben Tag mussten wir einen neuen Angriff verzeichnen, bereits den sechsten auf Las Delicias. Am Nachmittag zerstörte und verbrannte die Junta de Acción Comunal des Dorfes La Esperanza in unserer Anwesenheit erneut unsere Tore. Die Aggressoren kamen mit Kettensägen, Knüppeln und Benzin. Während sie die Tore zerstörten und verbrannten, erklärten sie, sie seien „friedlich“ gekommen. Danach versuchte César Jaramillo über lokale Radiosender der Öffentlichkeit das verzerrte Bild zu verkaufen, das er in seinem Hass gegen unsere Gemeinschaft und gegen die ehemalige Bürgermeisterin Gloria Cuartas und ihren technischen Berater Carlos Montoya aufgebaut hat. Er hat uns als „republiqueta“ (Verunglimpfung von Freiheitskämpfern, ehemals Kämpfer im Freiheitskampf in Bolivien Anm. d. Ü.) dargestellt, dass wir die Gesetze nicht anerkennen, dass wir den Bauern den Durchgang durch unseren Besitz erschweren, dass wir diejenigen, die uns nicht unterstützen, als paramilitärisch betrachten, dass wir uns Land und Rechte der lokalen Gemeinschaften aneignen. (…)
Am Freitag, 8.März, kurz vor Mitternacht haben Gruppen von Vandalen der Junta de Acción Comunal des Dorfes La Esperanza unsere Zäune und Tore umgestoßen und gestohlen. Es handelt sich um typische paramilitärische Taten, und die Verantwortlichen wurden als Mitglieder der Junta Comunal de La Esperanza identifiziert: Benjamín Higuita, Aníbal Higuita, Daney Tuberquia, Eufranio Graciano, Erien Tuberquia und andere sowie César Jaramillo. (…)
Am Montag, 11. März, gab es wieder Verleumdungen von der Junta de Acción Comunal von La Esperanza, die behauptete, dass unsere Gemeinde eine Person auf dem Bauernhof mit Steinen beworfen habe. Wir haben keine Stöcke, Kettensägen oder Steine geworfen. Laut Zeugenaussagen sind die Betroffenen vom Motorrad gestürzt, weil die Straße im Regen glitschig war. (…)
Am Mittwoch, 20. März, beschloss die Gemeinde im Dorf La Esperanza nach mehr als 24 Stunden Wartezeit auf die entsprechenden Behörden, die Leichen von Nelleli und Edinson in Hängematten mehr als fünf Stunden lang durch die Bergkette Abibe zu tragen. Das geschah inmitten eines heftigen Regengusses und steigender Fluten, bis wir die Stadt San José erreichten, wo die Leichen schließlich von der kriminaltechnischen Untersuchungsbehörde der Staatsanwaltschaft entgegengenommen wurden. (…)
Am Freitag, 22. März, erwiesen wir unserem Bruder und unserer Schwester, unseren Kameraden, die letzte Ehre, die durch die verbrecherischen Hände der Paramilitärs ermordet wurden, was offensichtlich von den Institutionen toleriert wird. Lebt wohl, Nalleli und Edinson. Sie werden immer in unserem Gedächtnis bleiben.
Am Montag, 25. März, verschickten die Paramilitärs auf verschiedenen Wegen neue Drohbotschaften, in denen sie ankündigten, dass es ihr Ziel sei, die Familien auszulöschen, die die humanitären Räume der Friedensgemeinde in den Dörfern La Resbalosa, Mulatos und La Esperanza koordinieren. Damit bringen sie zentrale Orte unserer Gemeinschaft in Gefahr, als ob sie andeuten wollten, dass wir sie aufgeben sollten.
Am Mittwoch, 27. März, reiste eine Kommission, die sich aus verschiedenen nationalen Regierungsinstitutionen zusammensetzte, nach La Esperanza, wo eine große Vertretung unserer Friedensgemeinde auf sie wartete. Die Mitglieder der Kommission wollten nicht nur die Einzelheiten des Verbrechens aus erster Hand hören, sondern auch den Kontext, den die Gemeinde vor der kolumbianischen Gesellschaft und internationalen Gerichten anprangert. (…)
Am nächsten Tag morgens um neun Uhr wurde eine humanitäre Kommission unserer Gemeinde mit internationaler Begleitung, die sich auf dem Weg von La Esperanza zum Dorf Mulatos befand, auf der Straße, wenige Minuten vom Weiler La Esperanza entfernt, von fünf Paramilitärs überrascht, von denen zwei Waffen trugen.
Wir danken noch einmal allen Menschen und Gemeinschaften im Land und in der Welt, die sich mit unserem Weg solidarisch gezeigt haben und die, besonders in solch schmerzhaften und tragischen Momenten wie jetzt, zahlreiche Wege gesucht haben, um an unserer Seite zu stehen.
Friedensgemeinde San José de Apartadó, 30. März 2024