Im Namen Kolumbiens um Verzeihung gebeten

Verzeihung – mit diesem Wort hatte sich Kolumbiens Präsident Gustavo Petro im Namen des Staates an uns gewandt. Er bezog sich auf unsere über 28-jährige Geschichte voller Schmerz und Tod, auf die Erinnerung an das vergossene Blut unserer Lieben, aber auch auf das Leben und auf den gewaltfreien Widerstand, mit dem wir in diesen 28 Jahren auch anderen Völkern und Kulturen ein Beispiel gegeben haben.

Dieser Akt der nationalen und internationalen Anerkennung, mit dem die Regierung von Präsident Petro am 5. Juni 2025 die Geschichte und das Wirken unserer Friedensgemeinde gewürdigt und dem Andenken an hunderte von zerstörten Menschenleben, dem in San José de Apartadó vergossenen Blut unserer Brüder und Schwestern Ehre erwiesen hat, liegt nun über einen Monat zurück. Aber wir stehen weiterhin unter Druck, unser Frieden, unser Besitz, unser Leben sind weiterhin bedroht. Wir informieren deshalb die Öffentlichkeit über die neuesten Ereignisse bei uns.

Am Montag, 5. Mai, folgte ein bekannter Paramilitär einem Mitglied unseres internen Rates mehrere Minuten lang, als dieser mit internationalen Begleitern im Dorf Mulato Medio unterwegs war.

Am Mittwoch, 7. Mai, drang ein Paramilitär am helllichten Tag auf unseren Besitz, die Aldea de Paz Rigoberto Guzmán ein. Er tat so, als wisse er nicht, dass er auf unserem Grund und Boden sei, blieb ein paar Minuten und verschwand dann.

Am Donnerstag, 8. Mai, feuerten Paramilitärs gegen zwei Uhr nachts in der Stadt San José de Apartadó Schüsse ab, obwohl es dort einen Militärstützpunkt und einen Bunker der Nationalpolizei gibt, die nicht eingriff. Am selben Tag brachten Paramilitärs ihre Wut über unseren damaligen Bericht der aktuellen Vorfälle zum Ausdruck: „Diese Scheiß-Friedensgemeinde muss hier weg“, weil sie ein Hindernis darstelle, hieß es.

Am Dienstag, 13. Mai, gab ein als Martín bekannter Paramilitär bekannt, er habe mehrere Personen auf der Liste, denen er per Mobiltelefon Bußgeldbescheide schicken werde, weil sie die von den Paramilitärs verkündeten Anweisungen und Anordnungen nicht Folge geleistet hätten, und er drohte, wer die Buße nicht zahle, müsse die Konsequenzen tragen.(…) Offenbar werden mindestens elf Personen bedroht und erpresst, weil sie sich den Anweisungen der Paras nicht fügten. Andere haben unter Morddrohungen das Gebiet verlassen.

Am Freitag, 16. Mai, ist eine bewaffnete Gruppe, die sich als Militär ausgab, auf unseren Grund und Boden in San Josesito vorgedrungen. Das Verteidigungsministerium bestritt, dass jemals eine derartige Aktion angeordnet oder bekannt geworden sei.

Am Montag, 19. Mai, fragte ein bekannter Paramilitär in Mulato Medio herum, um die Aktivitäten der Mitglieder der Gemeinschaft im Friedensdorf Luis Eduardo Guerra herauszufinden. Am selben Tag wurde ein Mitglied unseres internen Rats von Paras abgefangen und bedroht. (…)

Am Freitag, 23. Mai, fragte ein Para in Mulato Medio bei mehreren Bewohnern nach, ob sich ein weibliches Mitglied unserer Friedensgemeinschaft allein im Friedensdorf Luis Eduardo Guerra befand. Am selben Tag tauchten vier Paras dort auf.

Am Sonntag, 25. Mai, erfuhren wir von Morddrohungen gegen einen Bauern aus dem Dorf Mulato Medio.

Am Mittwoch, 4. Juni, fing ein allseits bekannter Paramilitär ein Mitglied unserer Gemeinde an der Straße ab und befragte ihn eindringlich, woher er komme, wann er zurückkehren oder an diesem Ort vorbeikommen werde.

Am Donnerstag, 5. Juni, erhielten wir Morddrohungen gegen José Roviro López, Mitglied des Internen Rates und Koordinator des Friedensdorfes Luis Eduardo Guerra. Es hieß, der Befehl laute, er solle sich nicht mehr in Mulato Medio sehen lassen. Am selben Tag erhielten wir die Information, nach der ein Bewohner der Gegend bedroht worden sei. Die Paramilitärs hätten ihm vorgeworfen, er informiere die Friedensgemeinde über die Aktivitäten der Paras, man werde seinen Fall den paramilitärischen Kommandeuren vorlegen, die „extreme Maßnahmen“ gegen ihn ergreifen würden.

Am Donnerstag, 5. Juni, fand der erwähnte Akt der Anerkennung unserer Friedensgemeinde unter Vorsitz des Staatspräsidenten Gustavo Petro statt. Im Namen des kolumbianischen Staates bat er um Verzeihung für die Barbarei der mehr als 1.810 Verbrechen gegen die Menschlichkeit, deren Opfer wir waren.  In seiner Rede brachte der Präsident seine Unzufriedenheit über die Abwesenheit seines Präsidialkabinetts bei der Veranstaltung zum Ausdruck und schlug uns vor, eine weitere Veranstaltung dieser Größenordnung in Anwesenheit von Vertretern der drei Gewalten einzuberufen. (Anm. d. Ü.: Es folgt eine an Präsident Petro gerichtete Aufzählung all der vergeblichen Versuche der Friedensgemeinde, hohe Vertreter der Judikative, der Legislative und auch der Exekutive unterhalb der Präsidentenebene zu der Veranstaltung einzuladen, ohne dass den Einladungen Folge geleistet oder auch nur abgesagt worden wäre.)

Als am Freitag, 6. Juni, unsere Delegation von dem Akt der Anerkennung aus Bogotá zurückkam, wurden ihre Mitglieder von mehreren Subjekten auf dem Flughafen von Apartadó umschlichen, die nicht verheimlichten, dass sie die Mitglieder kennen und quasi als Ziele identifiziert haben. Ein bekannter Paramilitär aus dem Dorf Adolfo Guzmán kommentierte eine Presseveröffentlichung über die Veranstaltung mit Petro am Tag zuvor mit den Worten „Petro ist genauso ein Guerillero wie der, den er umarmt“, gemünzt auf unseren juristischen Berater German Graciano, der in der Publikation mit Petro abgebildet war.

Am Samstag, 7. Juni, drangen Bagger auf unseren Grund und Boden in La Roncona vor, um Schwemmlandmaterial abzugraben. (…) Drei Tage später, am 10. Juni, kommen erneut ein Kipper und Bagger nach Resbaldosa, um das Schwemmmaterial abzutragen. Wir erklären wie schon früher oft, dass es unser Land und folglich unser Material sei, und die Leute auf den Maschinen entgegnen, sie hätten die Erlaubnis von denen, die hier in der Gegend das Sagen hätten.

Am Mittwoch, 11. Juni, versuchte Darwin Usuga, ein Mitglied der Friedensgemeinde, das außerhalb wohnt, mit einem der Führer unserer Gemeinde in Kontakt zu treten. Er kündigt an, dass er Informationen über die Mörder von Nalleli Sepúlveda und Edinson David habe (Anm. d, Ü.: Nalleli und ihr jüngerer Bruder wurden am 19. März 2024 in der Ortschaft La Esperanza ermordet. Nallelis Mann, ein aktives Mitglied der Friedensgemeinschaft, war zur Tatzeit mit seinem Vater in einem Hospital; dennoch wurde er als verdächtig, die Tat als Liebesdrama dargestellt.) Acht Tage später, am 19. Juni, wurde Darwin Usuga an seinem Wohnort Argelia, Antioquia, ermordet aufgefunden (Anm. d. Ü.: Argelia liegt Luftlinie 300, auf der Straße knapp 500 Kilometer von Apartadó entfernt).  Darwin war der Sohn von Gilma Rosa Graciano, die 2002 von Paramilitärs gefoltert und ermordet worden war. Er war mehrfach mit dem Tod bedroht worden und deshalb aus San José de Apartadó weggezogen.

Am Mittwoch, 25. Juni, verkündeten Paramilitärs, dass sie die Anwesenheit von Beamten der Agencia Nacional de Tierras in unserer Region nicht tolerieren würden. Begründung: Die ANT sei in Begleitung von Agenten der militärischen Aufklärung. (Anm. d. Ü.: Die ANT wurde im Zuge des Friedensvertrages vor zehn Jahren geschaffen. Sie soll die Besitzverhältnisse auf dem Land nach den Jahrzehnten der Vertreibungen neu ordnen).

(…)

Am Donnerstag, 3. Juli, wandten sich einige Bewohner der Region an die Friedensgemeinde und beklagten sich über die Regeln, die ihnen der Paramilitarismus aufzwingen. Vor allem die Vorschrift, sie dürften nur höchstens zwei Hektar zum Anbau nutzen, während die Paras ganze Wälder fällen, um das Land als Viehweide zu nutzen, trifft auf Ablehnung.

Am Dienstag, 8. Juli, hielt sich eine Kommission unter Leitung des Parlamentariers Pedro Baracutao García in unserer Gegend auf, was ausführlich in den sozialen Netzwerken dargestellt wurde. Demnach hat Baracutao dabei staatliche Investitionen unter anderem für den Bau von Ortsverbindungsstraßen gefordert, mit der Begründung, damit könnten die Bauern ihre Produkte besser vermarkten. Baracutao, ist Ihnen denn nicht bekannt, dass die Paramilitärs an der Spitze des Bezirks San José die Bauernschaft daran hindern, auf Flächen größer als zwei Hektar Landwirtschaft zu betreiben? Setzen Sie sich für den Bau illegaler Straßen im Bezirk San José ein, der zum Schutzgebiet von hoher ökologischer Bedeutung  erklärt wurde? Glauben Sie wirklich, dass der Bau einer Straße die Probleme und Bedürfnisse von San José de Apartadó löst? – Missbrauchen Sie diese angebliche Notwendigkeit, um von den wahren Bedürfnissen der Bevölkerung in den verschiedenen Dörfern der Gemeinde abzulenken? (Anm. d. Ü.: Jenseits der sachlichen Argumentation gegen die Erschließung von Straßen in einer ökologischen Schutzzone, in der die Paras die Macht beanspruchen – dass die Verfasserin oder der Verfasser des Blogs diesen Ton anschlägt, um Baracutao zu kritisieren, mag auch daran liegen, dass Baracutao früher die 34. Front der FARC kommandiert hat. Deren Operationsgebiet war Antioquia, sie ist unter anderem für die Ermordung von Politikern verantwortlich und war auch an dem  Massaker von Bojayá 2002 beteiligt, bei dem bei einer Explosion in einer Kirche 119 Zivilisten starben).

(…)

Am Freitag, 11. Juli, erhielten wir neue Todes- und Vernichtungsdrohungen, besonders gegen unseren juristischen Beistand Germán Graciano Posso und andere Mitglieder des Internen Rates.

Am 6. Juli haben wir uns von Ricardo Quintero verabschiedet, Gründungsmitglied unserer Friedensgemeinde, der nach schwerer Krankheit verstorben ist. Sein Herzschlag mag für immer stillstehen, aber seine Träume und seine Worte werden uns immer begleiten. Dank Dir, Ricardo, Du hast uns so viel vorgelebt, in Deinen Überzeugungen warst Du unerschütterlich bis zum Ende.

Friedensgemeinde San José de Apartadó, 14. Juli 2025

Der Terror als soziale Entwicklung verkappt

Unsere Friedensgemeinschaft von San José de Apartadó hat in den letzten Monaten eine ganz besondere Erfahrung gemacht. Seit letztem Jahr (2024) haben wir zugestimmt, in einen Verhandlungsprozess über eine einvernehmliche Lösung mit dem Staat einzutreten, unter Vermittlung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, ohne jedoch den Bruch mit dem Staat zu leugnen, da die Gründe und Motive für diese Entscheidung nach wie vor da sind, auch wenn sie 20 Jahre zurückliegen.

Die derzeitige Regierung von Präsident Petro hat es geschafft, einige Institutionen zu ändern, darunter die staatliche Rechtsverteidigungsagentur, die nicht mehr in erster Linie damit beschäftigt ist, jegliche Verantwortung von Staatsbediensteten bei Verbrechen zu leugnen, sondern diese in vorzeigbaren Fällen wie dem unserer Friedensgemeinschaft anerkennt.
Daher haben wir Wiedergutmachung für monumentale und konkrete Schäden gefordert, die von Staatsbediensteten begangen wurden, sofern sie nicht unmöglich zu reparieren sind, wie die Hunderte von Toten und Verschwundenen.
Wir haben aber nicht versucht, alle Schäden in Geldwerte umzurechnen, da die meisten unserer Werte keinen merkantilen Charakter haben und nicht in Geld ausgedrückt werden können.
Wir haben eine Überprüfung der schockierenden Handlungen der falschen und verdorbenen „Justiz“ gefordert, die seit Jahrzehnten in der Region tätig ist;

Wir haben die Wiederherstellung unseres guten Namens gefordert, der von den Massenmedien und dem verrotteten Justizapparat mit Füßen getreten wurde; wir haben die Anerkennung unserer Rechtstitel auf unser kollektives Land gefordert; wir haben gefordert, dass der Staat darauf verzichtet, uns, die Opfer, für die Verbrechen der Enteignung, der Vertreibung und der Massaker anzuklagen, die ja seine Agenten begangen haben, indem sie unsere verlassenen Ländereien mit Steuern in Millionenhöhe belegen.
Doch während der Prozess der gütlichen Einigung zufriedenstellend verläuft, werden wir von der anderen Seite des Staates weiterhin unerbittlich und schamlos verletzt.
Der Clan del Golfo, eine paramilitärische Struktur, die heute das Land, die Region Urabá und fast alle Dörfer von San José de Apartadó beherrscht, als eine echte De-facto-Regierung, mit der Duldung fast aller Institutionen (u.a. Armee, Polizei, Generalstaatsanwaltschaft), die sich gegenseitig heuchlerisch unterstützen, um diesen perversen Apparat aufrechtzuerhalten. ….  Der Clan del Golfo verfügt über Kämpfer, deren Anhänger mit hohen Geldbeträgen bezahlt werden, was es ihnen ermöglicht hat, große Teile der demobilisierten ehemaligen FARC-Mitglieder, Teile der Gesellschaft, Politiker, Geschäftsleute und andere zu erobern. …

Die Komplizenschaft der Sicherheitskräfte mit der Herrschaft des Clans ist offensichtlich. Im März 2024 erklärte der Kommandeur der 17. Brigade gegenüber internationalen Besuchern ganz offen, dass sie sich nicht an die Anweisung von Präsident Petro halten würden, sich bei unserer Friedensgemeinschaft für die zahlreichen an uns begangenen Verbrechen zu entschuldigen. Doch im Februar 2025 sind sie zu weit gegangen, indem der Kommandeur der 17. Brigade, Oberst Luis Enrique Camargo Rodríguez, eine Tutela-Klage gegen eine hochrangige Beamtin der Regierung Petro, Dr. Gloria Cuartas, Leiterin der Abteilung für die Umsetzung des Friedensabkommens, einreichte. Es ging um ihre Äußerungen in ihrem sozialen Netzwerk X am 19. Februar 2025, die den guten Ruf und die Ehre des Militärs verletzt hätten.

Dr. Cuartas hatte sich wie folgt geäußert: „Herr Präsident, ich hoffe, dass der neue Verteidigungsminister uns bei dem Problem mit der komplexen Beziehung, zwischen der 17. Brigade und der Polizei von Urabá gegen das autonome Friedensprojekt, dem ethischen Vorbild für die Welt, helfen wird. Ohne sie funktioniert der Clan del Golfo nicht

Die Richterin von Carepa, Ruth I. Betancur Henao, akzeptierte die tutela-Klage und dies, ohne überhaupt zu untersuchen, ob es wirklich eine komplexe Beziehung zwischen der 17. Brigade und dem Paramilitarismus in Urabá gab. Sie entschied zugunsten der Militärs und wies Dr. Cuartas an, ihre Aussagen innerhalb von 48 Stunden zu widerrufen. Allerdings blieb es nicht bei diesem Urteil, denn es wurde festgehalten, dass Dr. Gloria Cuartas nur ihre Pflichten erfüllte.

*Es folgt ein Rückblick auf Gerichtsverfahren, in denen es vor allem darum geht, den guten Namen und die Ehre des Militärs über deren Vergehen zu stellen und sie infolgedessen nicht öffentlich thematisieren zu dürfen.

Vom 12. Februar bis zum 8. April 2025 wurden die Mitglieder der Friedensgemeinde wieder durch verschiedene Aktionen der Nationalen Polizei, der Generalstaatsanwaltschaft und den Paras in Atem gehalten. Die Forderung nach Schutzgeldern durch die Paras mit entsprechender Gewaltandrohung verursacht Angst. Eine weitere Drohung bestand darin, alle Mitglieder der Friedensgemeinde zu ermorden – es gehe ihnen wie Nally und Edinson (ermordet am19. März 2024 d.Ü.), wenn sie im Friedensdorf Luis Eduardo Guerra in Mulato Medio übernachten. Hausfriedensbruch und unerlaubtes Betreten von Privatgrundstücken der Gemeinde sind weitere Mittel die Bevölkerung zu beunruhigen auch mit Vergewaltigung der Einwohnerinnen wird gedroht.
Aber positiv war, dass am 8. April mehrere internationale Organisationen in einer Geste der Solidarität mit der Bevölkerung, der Umwelt und der Gemeinschaft einen Appell an Präsident Petro richteten, um die Menschenrechtsverletzungen zu beenden, die sich systematisch wiederholen.

Am 15. April 2025 wird die Umsetzung eines Protokolls namens: „Zahlungen für Umweltdienstleistungen“ bekannt, das von der JEP (Jurisdiccion para la Paz, verantwortlich für die juristische Aufarbeitung der im Konflikt begangenen Verbrechen und für die Verurteilung und Bestrafung direkt oder indirekt beteiligter Akteure) und anderen Einrichtungen gefördert wird. In diesem Zusammenhang wird allerdings bedauert, dass zwar soziale Projekte durchgeführt aber Wahrheit und Gerechtigkeit auf der Strecke gelassen und mit Füßen getreten werden.

Bis zum 6. Mai 2025 folgen wieder Morddrohungen konkret mit Namensnennung des möglichen Mordopfers, illegaler Straßenbau mit anschließender Forderung von Maut, eine Straße wurde auf einem privaten Grundstück der Friedensgemeinde verlegt, dafür wurden Kakaobäume des Besitzers gefällt.

Während wir uns einem Szenario nähern, in dem der Staat die Ursachen versteht, die zum Bruch mit dem Staatsapparat geführt haben, wird uns das Vernichtungsprojekt gegen unser Lebensprojekt mit voller Wucht offenbart.

Unsere unumstößliche Überzeugung für das Leben gibt uns jedoch die Kraft, unser eigenes Leben noch einmal und so oft wie nötig zu verteidigen.
Im ehrenden Gedenken an unsere gefallenen Brüder und Schwesternwerden wir den mit ihnen begonnenen Widerstand fortsetzen.

Friedensgemeinde San José der Apartadó 6. Mai 2025

* Kursiv geschriebenes stellt eine Zusammenfassung von Ereignissen durch d. Ü dar.

Die gegen uns gerichtete Vernichtungsstrategie übersteigt bereits jede Hemmschwelle

Einmal mehr wendet sich unsere Friedensgemeinschaft von San José de Apartadó an die Menschheit und an die Geschichte, um die neuen und wiederholten Drohungen gegen unser solidarisches Leben zu dokumentieren. Wir aber versuchen nach wie vor, am ständigen Aufbau einer gerechteren Welt mitzuwirken.

Seit Langem versuchen die staatlichen Institutionen Kolumbiens, unterstützt von den Massenmedien, das Land und die Welt davon zu überzeugen, dass es in Kolumbien keine paramilitärischen Gruppen mehr gibt.
Diese bewaffneten Gruppen sind rechtlich nicht anerkannt, stimmen sich aber insgeheim mit dem gesamten institutionellen Rahmen ab. Ihre Aufgabe besteht darin, systematisch Verbrechen zu begehen, die die Menschheit mit größtem Entsetzen verabscheut, aber von der Justiz ungestraft bleiben. Sie zeigen sich dabei öffentlich als Gefährten und Schützlinge der Sicherheitskräfte, die schamlos ihre eigenen Uniformen, Räume und Bewegungen nutzen und von der Wirtschaft und den Massenmedien als Freunde angesehen werden.
Jedoch werden ihre Verbrechen von internationalen Gerichten als kriminell angesehen, ihre Beziehungen zum kolumbianischen Staat und zum Establishment waren nicht mehr zu verbergen, daher entwickelten sie einen anderen Modus Operandi. Jetzt werden die Beziehungen zu den Institutionen, zur Wirtschaft und zu den Massenmedien getarnt. Es besteht jetzt eine heimliche Finanzierung ihrer Akteure und Komplizen durch die Unterstützung der Drogenmafia und auf der Annahme der ANONYMITÄT als Methode zur Verschleierung ihrer Kriminalität. Innerhalb dieser Parameter war es möglich, dass zum Beispiel der CLAN DEL GOLFO, eine paramilitärische Struktur, die aus Urabá stammt, heute von einer Zivilbevölkerung und einer regionalen Institutionalität geschützt wird, die es ihr erlaubt Praktiken anzuwenden, die im Strafgesetzbuch als schwere Verbrechen gelten. Aber sie haben es geschafft, sie in routinemäßiger Toleranz als „normale Praktiken“ zu akklimatisieren, die niemand mehr infrage stellt und mit denen sich keine Kontrollinstanz, weder die Staatsanwaltschaft noch die Polizei noch die Armee noch die Generalstaatsanwaltschaft noch das Büro des Ombudsmanns zu befassen wagt.
Diese Gewöhnung an das Verbrechen hat dazu geführt, dass die alltägliche Ausübung der kriminellen Praktiken, die im Strafgesetzbuch klar beschrieben sind, „NORMAL“ geworden ist. Für jemanden, der die Gesetze und die Struktur der kolumbianischen Verfassungsordnung kennt, steht all dies im Widerspruch zur Rechtsordnung und zu den Gesetzen. Eine zivile Gruppe, die nicht durch ein verfassungsmäßiges Verfahren gewählt wurde, kann sich nicht die Macht anmaßen, auf diese Weise zu regieren, Regeln zu erfinden und durchzusetzen, Schutzgelder zu erpressen, Sanktionen zu verhängen, geschweige denn Strafen wie Verbannung und Tod, Land und Eigentum zu beschlagnahmen, Waffen zu benutzen, bewaffnete Patrouillen zu schicken, um ihren Willen durchzusetzen, und sogar so weit zu gehen, das Leben derer zu zerstören, die sich weigern zu gehorchen, nachdem sie auf alle möglichen Arten eingeschüchtert wurden.
Alles passiert im Namen einer elitären Ideologie oder einer „Ordnung“, die mit den Rechten und Garantien unvereinbar ist, die einst in einem Verfassungsrahmengesetz verankert waren. Obwohl dieses dutzende Male nach dem Willen einer wirtschaftlich privilegierten und korrupten Elite reformiert wurde, sind in ihm noch einige grundlegende Rechtsprinzipien verankert.

Wenn man immer wieder Zeugenaussagen von Landbewohnern oder Städtern hört, die die spezifischen Verbrechen beschreiben, die die tägliche Praxis der Paramilitärs ausmachen, ist man entsetzt, wenn man das Strafgesetzbuch aufschlägt und feststellt, dass mindestens 35 seiner Artikel die kriminellen Handlungen beschreiben, die den Alltag der Paramilitärs ausmachen. Die Justiz aber unternimmt nichts, um sie zu untersuchen, zu verfolgen und zu bestrafen. Auch die anderen staatlichen Institutionen unternehmen nichts dagegen, gebieten diesen Verbrechen keinen Einhalt, die die vielen Opfer in völliger Hilflosigkeit zurücklässt. Und was eigentlich noch schlimmer ist, diese Kriminalität wird durch riesige Geldsummen geschützt. Die Juntas de acción comunal (Anm. d. Ü.: Lokale Mitbestimmungsorgane, die die Verfassung vorsieht, die aber in der Praxis oft von den örtlich Mächtigen korrumpiert sind) werden durch hohe Bestechungsgelder dazu gebracht, zu schweigen und paramilitärische Projekte in ihrem Gebiet zu unterstützen.
(…)

Wir möchten heute über folgende Sachverhalte berichten:

Am Montag, den 6. Januar 2025, Morddrohung gegen einige Anführer unserer Friedensgemeinschaft

Am Montag, den 13. Januar 2025, wurde unsere Gemeinde über einen Aufruf zu einer Versammlung für die Einwohner der Region am 15. Januar in der Ortschaft La Esperanza, in unserem Dorf San José de Apartadó, informiert. Das zentrale Thema wäre, erneut die Notwendigkeit des Baus einer Straße über das Gebiet von Esperanza, unser Privateigentum. Unsere Opposition gegen den Bau dieser Straße hatte bereits in der Vergangenheit zu Blutvergießen und im März 2024 zu außergerichtlichen Hinrichtungen geführt.

(…)

Am Freitag, den 24. Januar 2025, wurden einige Einwohner der Gemeinde zu einer Versammlung vorgeladen. Hier erhielten sie folgende Vorschriften:
Sie dürfen nicht mehr als einen Hektar Land für den Anbau zur Selbstversorgung nutzen. Außerdem muss jedes Dorf zwischen 10 und 30 Millionen Pesos (€ 2.300 bis € 6.900) für den Bau der Straße beisteuern. Die Zivilbevölkerung muss den Treibstoff für die Maschinen liefern. Die Paramilitärs teilten einigen Zivilisten mit, dass im Falle der Friedensgemeinschaft der Befehl lautet: „Kein Zivilist sollte sich mit dieser HP (hijo de puta – Hurensohn d.Ü.) Gemeinschaft anlegen, denn sie haben bereits alles in die Wege geleitet, um sie auszurotten und vom Planeten zu tilgen“.

(….)

Am Freitag, den 14. Februar 2025, hielten die Paramilitärs in der Gegend von San José de Apartadó, eine Versammlung ab, es ging wieder um die Straße, die durch unser Eigentum führen würde. Dieses Projekt hatte ja bereits mehreren Protestierenden unserer Friedensgemeinschaft das Leben gekostet. Sie widersetzten sich dem Bau illegaler Straßen, die die Umwelt zerstören, im Dienste der multinationalen Bergbaukonzerne geplant werden, mit erpresserischen und illegalen „Steuern“ gebaut und mit militärischer Maschinerie in enger Zusammenarbeit mit Plänen durchgeführt werden, die von der dem Paramilitarismus unterworfenen Bevölkerung ohne jegliche demokratische Beteiligung festgelegt wurden.
(…)

(Anm. d. Ü.: Andere ständige Bedrohungen, Belästigungen, Einschränkungen fassen wir im Folgenden zusammen.)

Vor allem in sozialen Netzwerken werden falsche Nachrichten verbreitet, etwa die Einladung an die Zivilbevölkerung, unser Privateigentum zu betreten, weil auf diese Art betont werden könne, wie wichtig die Straße sei. (siehe 13. 1. 2025, d. Ü.) Dass dabei Drähte, Tore und Zäune niedergerissen werden, wurde in Kauf genommen.
Auch wurden Anwohner mit einem Plan der Paras bedroht, anonym eine der Siedlungen aus der Gemeinde niederzubrennen.

Einige paramilitärische Siedler kehrten die Bedrohungslage um, indem sie behaupteten, von der Friedensgemeinde bedroht zu werden.
Eines Tages wurden für alle Autos und Motorräder, die zwischen Apartadó und San José unterwegs waren, eine überhöhte Maut für die angebliche Reparatur einer vom Rathaus aufgegebenen Straße gefordert.

(…)

Zusammen mit unseren Unterstützern gedenken wir heute des 11. Jahrestages des letzten Massakers, das unsere Friedensgemeinschaft erlitten hat. Wir sind nach wie vor empört über die Straflosigkeit, die weiterhin herrscht.
Für unsere Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen gibt es für uns keine Mindestbedingungen, insbesondere wenn Hunderte und Aberhunderte von schrecklichen Verbrechen ohne jegliche Gerechtigkeit oder Aufklärung bleiben.

Sie mögen unser Leben beenden, aber niemals unsere Stimmen, die inmitten eines Meeres der Straflosigkeit nach der Wahrheit schreien.

Friedensgemeinschaft von San José de Apartadó
19. Februar 2025

Zwischen Paradoxien und Mehrdeutigkeiten

Die Verantwortung, die Vergangenheit ans Licht zu bringen, ist ebenso wichtig wie der Blick auf die Zukunft und die Risiken, die Geschichte zu wiederholen. Das eine, ohne das andere zu betrachten bedeutet, zu ignorieren, dass Gebäude Fundamente brauchen.

So geht das Leben unserer Friedensgemeinschaft und des Landes seit einiger Zeit weiter. Wir leben zwischen zwei sich widersprechenden Welten:

Einerseits beginnt der Staat jetzt anzuerkennen, dass er uns gegenüber ungeheuerlich grausam war. Nachdem er 27 Jahre lang Botschaften und Dokumente genutzt hat, die den Staat und seine Institutionen von allen Verbrechen freisprechen, sieht er jetzt, dass seine Tausende von Verbrechen nicht länger so konsequent geleugnet und verheimlicht werden können, sondern er vielmehr versuchen muss, Wiedergutmachung zu leisten.

Aber andererseits hat uns die Erfahrung mit den Mächten, die in unserer Umgebung wirklich das Sagen haben gezeigt, dass sie uns ausrotten wollen und dass sie bereits effektive Wege gefunden haben, dies zu tun: Vor allem ist da die territoriale Konsolidierung des Paramilitarismus unter der Herrschaft des Golfclans (das mächtigste Verbrechersyndikat Kolumbiens. Die Bande ist aus rechtsgerichteten Paramilitärs aus der Demobilisierung hervorgegangen. Die Gruppe arbeitet mit dem mexikanischen Sinaloa-Kartell zusammen und ist gegenwärtig für die Hälfte des kolumbianischen Kokain-Exports verantwortlich als eine de facto unanfechtbare Exekutivgewalt. Wikipedia, „Clan del Golfo“).

Es handelt sich um eine bewaffnete Struktur, die nach den Plänen einer Guerilla errichtet wurde, aber vom mächtigen Kapital des Drogenhandels geleitet wird und an die Nichtbeachtung der Polizei, der öffentlichen Kräfte, des Justizapparats und der Mafia der politischen Macht geknüpft ist. Innerhalb dieses Schemas kann weiterhin proklamiert werden, dass wenn es Verbrechen gibt, es auch „Gerechtigkeit“ gibt; dass, wenn es Gewalt gibt, es auch Friedenspolitik gibt, und es bei Ungerechtigkeiten auch Mechanismen der Bürgerbeteiligung gibt. Aber all diese Gegensätze existieren nur in der Fantasie.

Dieses Jahr haben sie Nalleli und Edinson getötet (Nalleli Sepúlveda, 30, und Edinson David, 14, waren die Ehefrau bzw. der Bruder eines der führenden Mitglieder der Friedensgemeinde. Sie wurden am 19. März 2024 von Unbekannten getötet. Danach wurde versucht, die Morde als Verbrechen aus Leidenschaft dem Mann von Nalleli in die Schuhe zu schieben, der jedoch zur Tatzeit mit seinem Vater im Krankenhaus von San José de Apartadó war. Anm. d. Ü.). Vor dem Verbrechen hatten sie uns wochenlang angeschrien, wir sollten uns ihren Entwicklungsplänen und -kriterien unterwerfen, und wenn wir es nicht täten, könnten sie unsere Zäune niederreißen und unser Blut vergießen, wenn wir uns ihren Bulldozern widersetzten.

Am Ende taten sie es mit Verrat und zeigten uns auch, dass sie in der Lage waren, die Medien so zu manipulieren, dass die Menschen falsche und abartige Versionen der Fakten glauben. Es gelang ihnen damit auch, sowohl die Justiz als auch viele Gemeindevertreter auf ihre Seite zu ziehen. Wir haben auch festgestellt, dass diejenigen, die ihre Befehle oder ihr Geschäft infrage stellten, „bei Unfällen“ oder unter „seltsamen Umständen“ ums Leben kamen.

Wir waren eigentlich davon überzeugt, dass eine Welle des „menschlichen Kolumbiens“ in der Politik niemals funktionieren könnte, wenn es eine Karikatur der Gerechtigkeit gibt, wie sie Kolumbien seit vielen Jahrzehnten mit sich herumschleppt und die ungerecht und unfähig funktioniert.

Aber was war das für eine Überraschung, als wir von dem Papier erfuhren, das das kolumbianische Außenministerium am 10. Oktober 2024 an das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte geschickt hat, nachdem sich die Vereinten Nationen im August entsetzt über die Verbrechen an Nelleli und Edison geäußert hatten!

Das Außenministerium listet elf Verfahren auf, die zu beweisen scheinen, dass das Verbrechen an Nalleli und Edinson mit außergewöhnlicher Sorgfalt und Unparteilichkeit untersucht und bestraft werden würde. Diejenigen von uns, die solche Vorgänge aus nächster Nähe miterlebt haben, können jedoch nicht akzeptieren, dass die Inspektion einiger Leichen oder die des Tatorts oder die Verhöre einiger Nachbarn etwas zur Wahrheit beitragen kann, während den Tätern alle mögliche Zeit und alle günstigen Umstände geboten wurden, um sich ihre Vertuschungslügen nach Belieben auszudenken.

Die jüngsten juristischen Winkelzüge bestärken uns in unserer früher gefassten Entscheidung, grundsätzlich nicht auf das kolumbianische Justizsystem zu bauen und uns stattdessen auf die in der Verfassung gewährte Gewissensfreiheit zu berufen.

Wir möchten weitere Ereignisse der letzten Monate festhalten:

Am Samstag, 16. September, wurde unter seltsamen Umständen der leblose Körper des Siedlers Juan de Jesús Graciano, Bewohners des Dorfes El Cuchillo de San José de Apartadó, gefunden. Einige seiner nahen Verwandten waren im Juli 1977 Opfer des ersten Falles geworden, den wir im Bereich der Razzien, Folter, des Verschwindenlassens und der Massenmorde durch die nationale Armee verzeichneten, als die Friedensgemeinschaft noch nicht existierte, Fälle, die der Staat noch immer nicht aufgeklärt hat. Was den Tod von Don Juan de Jesús betrifft, so wird gemunkelt, dass es sich um den Verkauf eines Grundstücks an Paramilitärs handelte, das seine Verwandten besessen hatten. Man habe von ihm verlangt, den Verkauf zu beglaubigen. Er habe abgelehnt, deshalb hätten sie ihn ermordet.

Am Dienstag, 8. Oktober, haben die Bewohner des Dorfes La Esperanza eine neue Drohung gegen die Familie von Germán Graciano, dem gesetzlichen Vertreter unserer Friedensgemeinschaft, ausgesprochen und erklärt, dass die Krankheit, an der César Jaramillo, Direktor der FEDECACAO (der Kakaopflanzer-Verband, Anm. d. Ü.) und Gegner unserer Gemeinschaft, derzeit leidet, das Ergebnis von Hexerei der Familie Graciano gegen ihn ist und dass im Falle seines Todes Germáns Mutter getötet würde. (Es gibt neben einer heilenden, gut gemeinten Seite eine dunklere Seite der „Brujería“ in Kolumbien. Einige Praktizierende nutzen ihre Kräfte für böswillige Zwecke, beispielsweise um Zauber zu bewirken, um anderen Schaden zuzufügen oder Reichtum und Macht zu erlangen. Diese dunklen Hexen, bekannt als Brujos Negros, werden von der Gemeinschaft gefürchtet und oft gemieden, Anm. d. Ü.)

Am Donnerstag, 7. November, wurde unter ungeklärten Umständen die Leiche von Bradier Alonso Ríos in der Gemeinde El Carmen del Viboral, Antioquia, gefunden. Bradier war Mitglied einer der Gründerfamilien der Friedensgemeinschaft, aber im Gegensatz zu seinen Brüdern und Schwestern hatte er einige Schwierigkeiten, alle Anforderungen der Vorschriften unserer Gemeinschaft zu erfüllen. Er schied bei uns aus und kam auf der Suche nach Arbeit in ein Gebiet mit viel Gewalt wie Ost-Antioquia. Ohne dass die Ursachen noch klar sind, tauchte seine Leiche mit tödlichen Wunden am Hals auf einer Weide auf. Es war möglich, seine sterblichen Überreste zu retten, die von unserer Gemeinschaft mit großer Anteilnahme beerdigt wurden.

Am Donnerstag, 21. November, hat der Staatsrat (Consejo de Estado, höchstes Organ der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Anm. d. Ü.) die Armee angewiesen, die Familie von Edilberto Vásquez Cardona, Mitglied unserer Friedensgemeinschaft, zu entschädigen. Edilberto wurde am 12. Januar 2006 von Soldaten des Infanteriebataillons Nr. 46 aus seinem Haus geholt und als “falso positivo” getötet (Unter der Bezeichnung Falsos-Positivos-Skandal wurden Fälle bekannt, bei denen Soldaten der  kolumbianischen Armee während des bewaffneten Konflikts in  Kolumbien wahllos Zivilpersonen töteten und die Leichen als im Kampf getötete Guerilla-Kämpfer präsentierten, um Erfolgsprämien wie zum Beispiel Beförderungen oder Sonderurlaub zu bekommen. Anm. d. Ü.)

Am Donnerstag, 5. Dezember, trafen erneut Morddrohungen gegen drei Mitglieder unseres Internen Rates ein: Germán Graciano, Arley Tuberquia und José Roviro López. Im Falle des letzteren haben sich, wie unserer Gemeinschaft mitgeteilt wurde, die Paramilitärs mehrmals auf den Dorfstraßen und auf der Straße von Apartadó nach San José aufgehalten und auf einen günstigen Moment gewartet, um ihn zu exekutieren, unabhängig davon, ob er von anderen Personen oder von internationaler Begleitung begleitet wird; sie sagen, dass sie jeden angreifen würden, der ihn begleitet. Es ist auch bekannt, dass Arley in der Stadt Apartadó bespitzelt wird, in der Hoffnung, einen seiner Ausflüge für ein Attentat zu nutzen.

Wenn in vielen Regionen des Landes Vorwürfe über paramilitärische Aktionen laut werden, ist es für jeden klar, dass das juristisch keinerlei Folgen haben wird. Sich die Macht anzumaßen, Versammlungen von Bevölkerungsgruppen einzuberufen und sie mit der Androhung von Bußgeldern oder Strafen wie Verbannung oder Tod zu erpressen, das offenbart nicht nur den kriminellen Charakter der Paramilitärs,  sondern auch die unbestreitbare Komplizenschaft derjenigen, die rechtlich den Auftrag haben, die Rechte der Bürger zu garantieren, die unbestreitbare Komplizenschaft von Gemeindevorständen, Stadträten, Bürgermeistern, Gouverneuren, Ministern, Abgeordneten, Staatsanwälten, Richtern, Bürgerbeauftragten, Pflichtverteidigern … Aber keiner von ihnen wurde je wegen Mittäterschaft belangt.

Ein kurzer Blick in das kolumbianische Strafgesetzbuch zeigt schon, dass die täglichen Routineaktionen des Paramilitarismus 33 Tatbestände des Strafgesetzbuches erfüllen. Aber es ist klar, dass weder die Polizei noch die Armee noch die Generalstaatsanwaltschaft sich um die Untersuchung und Bestrafung dieser Taten kümmern. Absolute Straffreiheit ermöglicht es dem Paramilitarismus, ungehindert zu agieren. Dies erklärt das Ausmaß unserer Tragödie.

Und wieder danken wir allen Gemeinschaften und Einzelpersonen, die uns moralisch unterstützt und unseren Widerstand gefördert haben.

Friedensgemeinde San José der Apartadó, 20. Dezember 2024

Leben im Schlagschatten des Todes

Einmal mehr wendet sich unsere Friedensgemeinschaft an das Land und die Welt, um die Tatsachen zu Protokoll zu geben, die die Menschen um uns herum und unsere Friedensgemeinde unentwegt bedrohen.

Seit vielen Jahren prangern wir die allgemein bekannte Präsenz der Paramilitärs in unserer Region an. Der Schrecken, den sie verbreiten, ist ein Phänomen, das eindeutig mit den Streitkräften zusammenhängt, an deren Seite sie zu operieren begannen, von denen sie ausgebildet, mit Waffen und Uniformen ausgestattet wurden und mit denen sie viele Jahre lang gemeinsam patrouillierten, bis der Aufschrei der internationalen Gemeinschaft sie zwang, ihre Beziehungen zur Armee diskreter zu gestalten. Aber dennoch erfüllten sie weiterhin die Aufgabe, die ihnen von Anfang an zugewiesen war: Die Gewalt auszuüben, die auszuüben den Sicherheitskräften durch das Gesetz verboten sind, ein Klima der Angst, des Schweigens und des Todes zu erzeugen, die Zivilbevölkerung daran zu hindern, ihre Grundrechte und -freiheiten wahrzunehmen.

Diese Situation führt nach wie vor zur Vertreibung von Menschen (…). Im vergangenen Jahr mussten mehrere Familien aus unserer Friedensgemeinde und anderen umliegenden Gemeinden ihre Häuser verlassen, um ihr Leben zu retten, und dabei ihren Besitz, ihre Tiere und ihre Lebensgrundlage zurücklassen.

Der Staat reagiert auf solche Ereignisse so gut wie gar nicht – Straflosigkeit und fehlende Gerechtigkeit sind die Kennzeichen seiner Passivität. Der Mord an Nalleli Sepúlveda und Edinson David am 19. März liegt nun schon fast sechs Monate zurück, ohne dass die Taten aufgeklärt oder die Verantwortlichen bestraft worden wären. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft kommen nicht voran, sodass die Verantwortlichen auf freiem Fuß bleiben und die Zivilbevölkerung unterdrücken und kontrollieren. Die Sicherheitskräfte verbreiten sogar unter den Bewohnern der Dörfer die Version, die die Täter konstruiert haben: Dass es die Familie der Opfer und ihre Friedensgemeinde war, die Schuld tragen an den beiden Mordtaten. (…) Es ist offensichtlich, dass der Justizapparat nur die Opfer belasten will, wie es die allzu bekannte Tradition ist, nicht aber die wahren Täter.

Die neuen Fakten, die wir heute zu Protokoll geben, sind die folgenden:

Am Mittwoch, 26. Juni, wurde unsere Gemeinde tagsüber über eine Reihe von Partys informiert, die in der Gegend stattfinden und bei denen die Anwesenheit von Paramilitärs und die Präsentation von Pornografie im Mittelpunkt stehen sollten.

Am Freitag, 28. Juni, teilte uns ein Einwohner der Region mit, dass mehrere Bewohner des Dorfes La Esperanza, unter anderem Erien Tuberquia, Benjamín Higuita, Daney Tuberquia und Aníbal de Jesús Higuita, bei der Staatsanwaltschaft gegen unsere Friedensgemeinde ausgesagt haben. Sie hätten behauptet, dass die Friedensgemeinde der geistige und materielle Urheber der Morde vom 19. März 2024 gewesen sei. Durch Lügen und Betrug haben sie eine Kampagne des Hasses, der Verfolgung und des Todes gegen uns ins Leben gerufen. Man tötet uns und beschuldigt uns dann, dafür verantwortlich zu sein – die Dreistigkeit und Niedertracht kennen keine Grenzen.

Am Dienstag, 2. Juli, erhielten wir die Information, dass einige Mitglieder der Junta de Acción Comunal des Dorfes La Esperanza angekündigt haben, dass sie mittels der Presse und der Justiz gegen unsere Gemeinde vorgehen würden. (Anm. d. Ü.: Die Juntas de Acción Comunal sind in der kolumbianischen Verfassung festgeschriebene Mitbestimmungsgremien auf lokaler Ebene, die in der Praxis oft von den örtlichen Machthabern kooptiert sind.) Sie behaupteten, Zeugenaussagen zu haben, die Diego Ceballos, den Ehemann der ermordeten Nalleli, und Germán Graciano, unser Rechtsbeistand, beschuldigen, für den Doppelmord verantwortlich zu sein. (…)  Die Lügen und Verleumdungen dieser Gruppe von Dorfbewohnern, die von dem Fedecacao-Vertreter César Jaramillo angeführt wird, (…) dauern weiterhin an (Anm. d. Ü.: Fedecacao ist die mächtige Vereinigung der kolumbianischen Kakaopflanzer und -exporteure).

Am Donnerstag, 4. Juli, und dem darauffolgenden Montag kamen mehrere Dorfbewohner zu uns und prangerten die Behauptungen an, die die Staatsanwaltschaft im Hinblick auf uns erhoben hat. Laut Zeugenaussagen haben mehrere Beamte der Staatsanwaltschaft von Apartadó den Bewohnern gesagt, dass sie vorgeladen wurden, um zu bezeugen, dass die Friedensgemeinde Kinder ausbildet, die dann zu den verschiedenen Guerilla-Fronten in der Region geschickt würden. Ein weiterer Teil eines Plans, unsere Gemeinde zu diskreditieren, der von den Militärs und den Paramilitärs gefördert wird.

In der ersten Juliwoche versuchten die Paramilitärs in einem der Dörfer von San Jose de Apartadó drei Minderjährige zu rekrutieren.

Am Dienstag, 9. Juli, befanden sich ein Beamter der JEP und ehemalige FARC-Kämpfer in den Weilern La Linda und Mariano in der Gemeinde San José de Apartadó, um Leichen zu exhumieren (Anm. d. Ü.: Die Justicia Especial para la Paz, JEP, ist die Sondergerichtsbarkeit, die mit dem 2016 geschlossenen Friedensvertrag zwischen der Regierung und der Guerrillagruppe Farc installiert wurde).

Von Donnerstag, 18. Juli, bis Sonntag, 21. Juli, haben wir unter Begleitung nationaler Gruppen und verschiedener internationaler Organisationen einen Gedenkmarsch zu den Dörfern La Esperanza und Mulatos in San José de Apartadó unternommen, um an die abscheuliche Ermordung unserer Genossen Nalleli Sepúlveda und Edinson David zu erinnern (…). Während des Marsches waren an einigen Stellen entlang der Straße Paramilitärs in Zivil zu sehen – eine Atmosphäre der Todesgefahr, die von den Drohungen von César Jaramillo und den Paramilitärs ausgeht, deren Parole lautet „Schluss mit der Friedensgemeinde“. (…)

Am Freitag, 19. Juli, erhielten wir Besuch von einem jungen, offenbar erst kürzlich rekrutierten Paramilitär, der von seinen Chefs Morddrohungen erhalten hatte. Wie in diesem Fall gibt es in der Region viele Jugendliche, Minderjährige, die von den Paramilitärs verpflichtet werden, ohne dass die zuständigen Institutionen etwas dagegen unternehmen. Einige dieser jungen Menschen wurden bereits von Paramilitärs oder der Armee in anderen Teilen des Landes getötet. Unsere Friedensgemeinde hat immer wieder öffentlich auf diese Barbarei hingewiesen, aber die Institutionen sind blind und stumm angesichts dieser Realitäten.

Am Samstag, 20. Juli, hieß es in den sozialen Netzwerken, die Friedensgemeinde habe im Dorf San José de Apartadó heimlich menschliche Überreste exhumiert, um dafür Geld zu erpressen. In Anbetracht dessen können wir nur unseren Grundsatz der Achtung der Menschenwürde bekräftigen, und genau daher würden wir niemals die sterblichen Überreste einer Person ohne die Zustimmung und Anwesenheit ihrer eigenen Angehörigen antasten. (…)

Am Freitag, 26. Juli, berichteten die lokalen Medien, dass die Armee mehrere Paramilitärs in einem Ort in der Nähe der Weiler Arenas Bajas und El Porvenir, in der Gemeinde San José de Apartadó, gefangengenommen und mit einem Hubschrauber abtransportiert habe. Nach Angaben der Bauern waren diese Personen damit beauftragt, in einigen Dörfern obligatorische Versammlungen mit den Bauern abzuhalten. Zwei Tage später erhielten wir den Anruf eines Anwohners, der uns warnte: Als Vergeltung für diese Festnahmen von Paramilitärs seien neue Repressalien gegen uns angekündigt worden. (…)

Am Sonntag, 4. August, als eine Delegation unserer Gemeinde durch den Ort Chontalito in der Gemeinde San José de Apartado fuhr, wurden sie von zwei Paramilitärs überrascht, die Waffen und Funkgeräte mit sich führten und die Frequenzen abfragten.

Am Samstag, 10. August, erhielten wir einen Hinweis, mehrere Personen seien in einem Lieferwagen ohne Nummernschilder auf der Straße von Apartadó nach San José unterwegs, und sie erkundigten nach den Spielplätzen der Kinder.

In der dritten Augustwoche fand ein von Paramilitärs einberufenes Treffen an einem Ort im Dorf La Unión statt, bei dem mehrere Paramilitärs in Uniform und mit Gewehren anwesend waren, zusammen mit einer Frau, die das Treffen mit den Bewohnern des Sektors koordinierte. Auch in einigen Bereichen von Mulato Medio wurden uniformierte Paras gesichtet. (…)

Am Mittwoch, 4. September, erfuhren wir von einer Morddrohung gegen einen Zivilisten aus der Region, offenbar haben die Paramilitärs den Fall an ihre Kommandeure weitergegeben, die die außergerichtliche Hinrichtung des Zivilisten beschließen werden.

Am Donnerstag, 5. September, wurde unsere Gemeinde über die paramilitärischen Drohungen gegen Roviro López, Mitglied des Internen Rates unserer Gemeinde, informiert, die paramilitärische Ankündigung lautete: „der kleine Affe, der auf der anderen Seite lebt, soll bloß aufpassen, wir werden diesen Hurensohn einer Kröte töten“.

Am Montag, 9. September, erfuhren wir von dem Plan, unsere Farm Roncona zu besetzen, ein Plan, der von Hugo Alberto Molina Torres befürwortet wird und der mit den Direktoren der Kooperative Cacao Vive (…) in Verbindung steht.

Unterwerfung, Kontrolle und Angst hören nicht auf. Unsere Region blutet, auch wenn unsere Friedensgemeinde und die umliegende Bevölkerung weiterhin für Gerechtigkeit und das Andenken an unsere ermordeten Kameraden kämpfen, ohne gehört zu werden. Trotz zahlloser Beschwerden herrschen in der Region weiterhin Straflosigkeit und die Kontrolle durch Unternehmen und Paramilitärs. Wirtschaftliche Interessen, die mit dem Paramilitarismus verbunden sind, erinnern uns ständig an die Gefahr, der wir Menschenrechtsverteidiger ausgesetzt sind. (…)

Unsere Friedensgemeinschaft ist nach wie vor Zielscheibe von Drohungen und Tötungen in einem Staatswesen, das Ungerechtigkeit und paramilitärische Gewalt rechtfertigt. Auch wenn die Zentralregierung in Bogotá eine andere Meinung vertritt, ist ihre Ohnmacht angesichts eines völlig verrotteten Justizsystems, das radikale Veränderungen erfordert, ebenso offensichtlich wie bedauerlich.

Wir danken von ganzem Herzen allen Menschen und Gemeinschaften in Kolumbien und der ganzen Welt für ihre Solidaritätsbekundungen und ihr Engagement angesichts der schwierigen Situation, in der wir uns befinden.

Friedensgemeinde San José de Apartadó, 11. September 2024

Über uns das Damoklesschwert der Vernichtung

In diesem Jahr hat unsere Friedensgemeinde San José de Apartadó eine zunehmende Verfolgung durch Kampagnen erlebt, die zivile Organisationen wie die Juntas de Acción Comunal vereinnahmt haben.

Es lohnt sich, daran zu erinnern, was wir schon in unserem Bericht vom 6. Mai 2021 angeprangert haben. Zum einen geht es um das Kommuniqué von César Jaramillo, dem Hauptinitiator dieser Verfolgung, mit dem Titel „An die staatlichen Behörden“, in dem gefordert wurde, dass nur die Meinung der Juntas de Acción Comunal gehört wird und nicht die unserer Friedensgemeinschaft (Anm. d. Ü.: Diese Juntas (wörtlich: kommunale Aktionsräte) sind in der kolumbianischen Verfassung vorgesehene Mitbestimmungsgremien auf lokaler Ebene, die in der Praxis allerdings oft von den örtlichen Machthabern gelenkt und manipuliert werden). Diese Erklärung fällt zeitlich mit der Verfassungsbeschwerde zusammen, mit der die 17. Heeresbrigade im Oktober 2018 gegen uns vorgegangen ist, um uns daran zu hindern, mit unseren regelmäßigen Blog-Berichten die Zivilgesellschaft darüber zu informieren, was bei uns geschieht

Anmerkung der Übersetzung:
Eine Verfassungsbeschwerde, spanisch acción de tutela, kann in Kolumbien vor jedem Richter erhoben werden, anders als in Deutschland, wo allein das Bundesverfassungsgericht dafür infrage käme, erläutert Professor Michael Stöber, Präsident der Deutsch-Kolumbianischen Juristenvereinigung auf AnfrageJ: „Ganz ähnlich wie bei der deutschen Verfassungsbeschwerde dient die ‚acción de tutela‘ der Geltendmachung einer Verletzung von Grundrechten. Wenn das Gericht die ‚acción de tutela‘ für begründet hält, kann es Maßnahmen zur Abhilfe verfügen. Im vorliegenden Fall könnte dies zum Beispiel eine Unterlassungsverfügung sein, d. h. das Gericht würde der Gegenpartei untersagen, die betreffenden Inhalte weiterhin in dem Blog zu veröffentlichen. Während nach deutschem Verständnis der Staat und seine Organe grundsätzlich nicht Grundrechtsberechtigte, sondern nur Grundrechtsverpflichtete sind (und deshalb grundsätzlich keine Verfassungsbeschwerde erheben können), ist das kolumbianische Verständnis der Grundrechte weiter. In Kolumbien können u. U. auch staatliche Organe wie hier die Streitkräfte sich auf Grundrechte berufen. In Deutschland wäre dies nicht möglich.“
Die Übersetzer danken Professor Stöber für seine Erklärungen.

Zum anderen muss erinnert werden an den Aufruf ebendieses Herrn Jaramillo, der die Vorsitzenden der Junta de Acción Comunal von La Esperanza dazu brachte, sich in einem „Vertrag“ zu verpflichten, unsere Friedensgemeinschaft zu vernichten. Dieser Text wurde am 26. April 2021 im Rathaus von Apartadó verfasst. (…)

Obwohl es den Anschein hatte, dass diese Kampagne eingestellt worden war, zeigen die Ereignisse dieses Jahres dagegen, dass sie mit extremen Formen der Gewalt wiederbelebt wurde. Die Audios, die zwischen Februar und Mai dieses Jahres zirkulierten, begleitet von den zerstörerischen Aktionen gegen unsere Farm Las Delicias im Dorf La Esperanza, die in der Ermordung von Nalleli Sepúlveda und Edinson David am 19. März gipfelten zeigen, dass diese Kampagne nach wie vor gegen uns geführt wird. Sie ist mit der gesamten paramilitärischen Kontrolle des Gebiets unter der Führung der kriminellen Organisation Clan del Golfo verbunden ist (Anm. d. Ü.: Der Clan del Golfo, auch Clan Úsuga, Los Urabeños oder Autodefensas Gaitanistas de Colombia genannt, ist laut Wikipedia das mächtigste Verbrechersyndikat Kolumbiens. Die Bande ist aus rechtsgerichteten Paramilitärs hervorgegangen. Die Gruppe arbeitet mit dem mexikanischen Sinaloa-Kartell zusammen und ist für große Teile des kolumbianischen Kokain-Exports verantwortlich. Der Clan benutzt als operative Basis die schwer zugängliche nordwestkolumbianische Subregion Urabá, in der San José de Apartadó liegt – daher auch der Name „Los Urabeños“.)

In den letzten Wochen kam es zu neuen Fällen dieser Verfolgung, die wir vor der Öffentlichkeit zu Protokoll geben:

Am Freitag, 7. Mai, wurde die starke Präsenz mehrerer bekannter Paramilitärs an dem als Chontalito bekannten Ort festgestellt. Dabei war Adolfo Guzmán, ein bestens bekannter Paramilitär aus dem Dorf La Unión.

Am Samstag, 18. Mai, wurde die Gemeinschaft auf ein Dokument aufmerksam, das von einigen Personen aus dem Dorf San José de Apartadó unterzeichnet und im Mai bei verschiedenen nationalen und internationalen Behörden eingereicht wurde. Darin bringen sie nicht nur ihre Ablehnung der Morde an Nalleli Sepúlveda und Edinson David zum Ausdruck, sondern klagen auch die Stigmatisierung der Zivilbevölkerung unserer Umgebung und unserer Friedensgemeinschaft an. Bei der Durchsicht der Liste der Unterzeichner wird jedoch schnell deutlich, dass einige der Unterzeichner genau diejenigen waren, die nicht nur zu den Verbrechen motiviert haben, sondern auch Gewalttaten wie die Zerstörung von Zäunen und Toren und deren Verbrennung sowie die Verbreitung des Slogans „keine Friedensgemeinschaft mehr“ gefördert haben und die den Plan zur Auslöschung von Menschenleben unterstützt haben, wie aus den verschiedenen Audios und Videos hervorgeht, die in den sozialen Netzwerken kursierten.

Am Montag, 20. Mai, wurden Bernardo Ceballos und Nohemi David, die Eltern unseres Genossen Diego und damit die Schwiegereltern unserer am 19. März ermordeten Genossin Nalleli Sepúlveda, telefonisch von der Staatsanwaltschaft vorgeladen. Seit dem Verbrechen hatten die Täter Diego aufs übelste verleumdet, indem sie versuchten, ihm das Verbrechen in die Schuhe zu schieben, obwohl er sich zur Tatzeit um seinen Vater kümmerte, der in Apartadó im Krankenhaus lag. Die Staatsanwältin namens Amelia, die die Eltern von Diego absolut regelwidrig per Telefon vorlud, bestätigt die lange, feststehende Tradition, die die Justiz in Urabá kennzeichnet: Dass gegen die Opfer ermittelt wird und niemals gegen die Täter. In der Tat gibt es kein erkennbares Ermittlungsinteresse der Staatsanwaltschaft gegenüber bestimmten Leuten der Junta de Acción Comunal von La Esperanza, die bei ihren gewalttätigen Angriffen auf unseren Bauernhof Las Delicias ganz offen vorgingen. Sie schreckten auch nicht davor zurück, die Mitglieder unserer Gemeinschaft in ihren Audios und Videos öffentlich an den Pranger zu stellen und zu unserer Vernichtung aufzurufen. Sie erklären, dass sie, wenn es nötig sei, Blut zu vergießen, Blut vergießen würden. All dies zeigt, dass die Tradition der Straflosigkeit der Justiz von Urabá unangetastet bleibt, zur Schande des Landes und der Welt.

Am Dienstag, 21. Mai, wurde bekannt, dass die Paramilitärs einen großen Teil des unberührten Waldes am sogenannten Chontalito im Gebirge Serranía de Abibe abgeholzt haben. Dort prangern wir seit mehreren Monaten einen Parkplatz und eine paramilitärische Unterkunft an.

Am Dienstag, 28. Mai, stellte eine humanitäre Mission unserer Gemeinschaft beim Betreten des Anwesens Las Delicias im Dorf La Esperanza fest, dass sich die Gewalt nun gegen die Tiere richtet, die die Lebensgrundlage der Familien der Gemeinde bilden. Im Laufe der Zeit wurden mehrere Rinder mit Macheten verwundet, eines von ihnen wurde geschlachtet.

Am Sonntag, 2. Juni, kamen nachts nahe den Dörfern Arenas und La Unión mehrere Männer in Tarnuniform mit Gewehren und ELN-Abzeichen und sagten den Dorfbewohnern, dass sie nachts niemanden sehen wollen. Wir haben keinen Zweifel daran, dass in einem Gebiet, das vollständig von den Paramilitärs kontrolliert wird, es die Paras selbst es sind, die sich als andere bewaffnete Akteure tarnen, um die Region mit noch mehr Terror zu überziehen.

Am Mittwoch, 5. Juni, wurde eine Delegation der nationalen Regierung, verschiedener Ministerien und Verwaltungseinheiten in Begleitung mehrerer Botschafts- und UN-Vertreter in unserer Friedensgemeinde empfangen. Dieses Treffen war eine Fortsetzung des Treffens vom 27. März auf der Farm Las Delicias im Ortsteil La Esperanza, bei dem eine Lagebeurteilung erstellt und einige Schutzmaßnahmen zugesagt wurden. Erneut wurde deutlich, dass es keinerlei Genehmigungen für den Bau von Straßen in diesem Gebiet gibt, was die laufenden Projekte illegal macht. Die Abwesenheit des Umweltministeriums war bedauerlich, denn während dieses Treffens entnahmen mehrere Kipplaster auf ihrem Weg durch unsere Finca La Roncona illegal Baumaterial aus dem Fluss, und zwar mit Genehmigung der Chefs der Junta de Acción Comunal des Dorfes La Victoria, die angeblich für die Entnahme von illegalem Material Gebühren erhoben.

Am Donnerstag, 6. Juni, wandte sich ein dunkel gekleideter Paramilitär an einen Verwandten von Germán Graciano, dem Rechtsvertreter unserer Friedensgemeinschaft, um ihm mitzuteilen, dass Graciano bereits ermordet worden sei. Das stellte sich als falsch heraus, aber es bestätigte, dass der Auftrag zu seiner Ermordung unter den Paramilitärs zirkulierte, so wie auch seit Monaten immer wieder die Rede von Mordaufträgen gegen andere Mitglieder der Gemeinschaft und des Internen Rates unserer Friedensgemeinde die Rede ist.

Wir danken erneut vielen Gemeinschaften in Kolumbien und auf der ganzen Welt für ihre Solidaritätsbekundungen angesichts der sich verschlimmernden Verfolgung gegen unsere Friedensgemeinschaft.

Besonders hervorheben möchten wir die umfangreichen und wohldurchdachten Dokumente, die sie an die Instanzen des Interamerikanischen Systems für Menschenrechte und an die verschiedenen Behörden des kolumbianischen Staates geschickt haben, in denen sie Gerechtigkeit und Schutz für uns fordern, stets unter Beachtung der internationalen Verträge und der nationalen Verfassung selbst.

Friedensgemeinde San José de Apartadó, im Juni 2024