Verzeihung – mit diesem Wort hatte sich Kolumbiens Präsident Gustavo Petro im Namen des Staates an uns gewandt. Er bezog sich auf unsere über 28-jährige Geschichte voller Schmerz und Tod, auf die Erinnerung an das vergossene Blut unserer Lieben, aber auch auf das Leben und auf den gewaltfreien Widerstand, mit dem wir in diesen 28 Jahren auch anderen Völkern und Kulturen ein Beispiel gegeben haben.
Dieser Akt der nationalen und internationalen Anerkennung, mit dem die Regierung von Präsident Petro am 5. Juni 2025 die Geschichte und das Wirken unserer Friedensgemeinde gewürdigt und dem Andenken an hunderte von zerstörten Menschenleben, dem in San José de Apartadó vergossenen Blut unserer Brüder und Schwestern Ehre erwiesen hat, liegt nun über einen Monat zurück. Aber wir stehen weiterhin unter Druck, unser Frieden, unser Besitz, unser Leben sind weiterhin bedroht. Wir informieren deshalb die Öffentlichkeit über die neuesten Ereignisse bei uns.
Am Montag, 5. Mai, folgte ein bekannter Paramilitär einem Mitglied unseres internen Rates mehrere Minuten lang, als dieser mit internationalen Begleitern im Dorf Mulato Medio unterwegs war.
Am Mittwoch, 7. Mai, drang ein Paramilitär am helllichten Tag auf unseren Besitz, die Aldea de Paz Rigoberto Guzmán ein. Er tat so, als wisse er nicht, dass er auf unserem Grund und Boden sei, blieb ein paar Minuten und verschwand dann.
Am Donnerstag, 8. Mai, feuerten Paramilitärs gegen zwei Uhr nachts in der Stadt San José de Apartadó Schüsse ab, obwohl es dort einen Militärstützpunkt und einen Bunker der Nationalpolizei gibt, die nicht eingriff. Am selben Tag brachten Paramilitärs ihre Wut über unseren damaligen Bericht der aktuellen Vorfälle zum Ausdruck: „Diese Scheiß-Friedensgemeinde muss hier weg“, weil sie ein Hindernis darstelle, hieß es.
Am Dienstag, 13. Mai, gab ein als Martín bekannter Paramilitär bekannt, er habe mehrere Personen auf der Liste, denen er per Mobiltelefon Bußgeldbescheide schicken werde, weil sie die von den Paramilitärs verkündeten Anweisungen und Anordnungen nicht Folge geleistet hätten, und er drohte, wer die Buße nicht zahle, müsse die Konsequenzen tragen.(…) Offenbar werden mindestens elf Personen bedroht und erpresst, weil sie sich den Anweisungen der Paras nicht fügten. Andere haben unter Morddrohungen das Gebiet verlassen.
Am Freitag, 16. Mai, ist eine bewaffnete Gruppe, die sich als Militär ausgab, auf unseren Grund und Boden in San Josesito vorgedrungen. Das Verteidigungsministerium bestritt, dass jemals eine derartige Aktion angeordnet oder bekannt geworden sei.
Am Montag, 19. Mai, fragte ein bekannter Paramilitär in Mulato Medio herum, um die Aktivitäten der Mitglieder der Gemeinschaft im Friedensdorf Luis Eduardo Guerra herauszufinden. Am selben Tag wurde ein Mitglied unseres internen Rats von Paras abgefangen und bedroht. (…)
Am Freitag, 23. Mai, fragte ein Para in Mulato Medio bei mehreren Bewohnern nach, ob sich ein weibliches Mitglied unserer Friedensgemeinschaft allein im Friedensdorf Luis Eduardo Guerra befand. Am selben Tag tauchten vier Paras dort auf.
Am Sonntag, 25. Mai, erfuhren wir von Morddrohungen gegen einen Bauern aus dem Dorf Mulato Medio.
Am Mittwoch, 4. Juni, fing ein allseits bekannter Paramilitär ein Mitglied unserer Gemeinde an der Straße ab und befragte ihn eindringlich, woher er komme, wann er zurückkehren oder an diesem Ort vorbeikommen werde.
Am Donnerstag, 5. Juni, erhielten wir Morddrohungen gegen José Roviro López, Mitglied des Internen Rates und Koordinator des Friedensdorfes Luis Eduardo Guerra. Es hieß, der Befehl laute, er solle sich nicht mehr in Mulato Medio sehen lassen. Am selben Tag erhielten wir die Information, nach der ein Bewohner der Gegend bedroht worden sei. Die Paramilitärs hätten ihm vorgeworfen, er informiere die Friedensgemeinde über die Aktivitäten der Paras, man werde seinen Fall den paramilitärischen Kommandeuren vorlegen, die „extreme Maßnahmen“ gegen ihn ergreifen würden.
Am Donnerstag, 5. Juni, fand der erwähnte Akt der Anerkennung unserer Friedensgemeinde unter Vorsitz des Staatspräsidenten Gustavo Petro statt. Im Namen des kolumbianischen Staates bat er um Verzeihung für die Barbarei der mehr als 1.810 Verbrechen gegen die Menschlichkeit, deren Opfer wir waren. In seiner Rede brachte der Präsident seine Unzufriedenheit über die Abwesenheit seines Präsidialkabinetts bei der Veranstaltung zum Ausdruck und schlug uns vor, eine weitere Veranstaltung dieser Größenordnung in Anwesenheit von Vertretern der drei Gewalten einzuberufen. (Anm. d. Ü.: Es folgt eine an Präsident Petro gerichtete Aufzählung all der vergeblichen Versuche der Friedensgemeinde, hohe Vertreter der Judikative, der Legislative und auch der Exekutive unterhalb der Präsidentenebene zu der Veranstaltung einzuladen, ohne dass den Einladungen Folge geleistet oder auch nur abgesagt worden wäre.)
Als am Freitag, 6. Juni, unsere Delegation von dem Akt der Anerkennung aus Bogotá zurückkam, wurden ihre Mitglieder von mehreren Subjekten auf dem Flughafen von Apartadó umschlichen, die nicht verheimlichten, dass sie die Mitglieder kennen und quasi als Ziele identifiziert haben. Ein bekannter Paramilitär aus dem Dorf Adolfo Guzmán kommentierte eine Presseveröffentlichung über die Veranstaltung mit Petro am Tag zuvor mit den Worten „Petro ist genauso ein Guerillero wie der, den er umarmt“, gemünzt auf unseren juristischen Berater German Graciano, der in der Publikation mit Petro abgebildet war.
Am Samstag, 7. Juni, drangen Bagger auf unseren Grund und Boden in La Roncona vor, um Schwemmlandmaterial abzugraben. (…) Drei Tage später, am 10. Juni, kommen erneut ein Kipper und Bagger nach Resbaldosa, um das Schwemmmaterial abzutragen. Wir erklären wie schon früher oft, dass es unser Land und folglich unser Material sei, und die Leute auf den Maschinen entgegnen, sie hätten die Erlaubnis von denen, die hier in der Gegend das Sagen hätten.
Am Mittwoch, 11. Juni, versuchte Darwin Usuga, ein Mitglied der Friedensgemeinde, das außerhalb wohnt, mit einem der Führer unserer Gemeinde in Kontakt zu treten. Er kündigt an, dass er Informationen über die Mörder von Nalleli Sepúlveda und Edinson David habe (Anm. d, Ü.: Nalleli und ihr jüngerer Bruder wurden am 19. März 2024 in der Ortschaft La Esperanza ermordet. Nallelis Mann, ein aktives Mitglied der Friedensgemeinschaft, war zur Tatzeit mit seinem Vater in einem Hospital; dennoch wurde er als verdächtig, die Tat als Liebesdrama dargestellt.) Acht Tage später, am 19. Juni, wurde Darwin Usuga an seinem Wohnort Argelia, Antioquia, ermordet aufgefunden (Anm. d. Ü.: Argelia liegt Luftlinie 300, auf der Straße knapp 500 Kilometer von Apartadó entfernt). Darwin war der Sohn von Gilma Rosa Graciano, die 2002 von Paramilitärs gefoltert und ermordet worden war. Er war mehrfach mit dem Tod bedroht worden und deshalb aus San José de Apartadó weggezogen.
Am Mittwoch, 25. Juni, verkündeten Paramilitärs, dass sie die Anwesenheit von Beamten der Agencia Nacional de Tierras in unserer Region nicht tolerieren würden. Begründung: Die ANT sei in Begleitung von Agenten der militärischen Aufklärung. (Anm. d. Ü.: Die ANT wurde im Zuge des Friedensvertrages vor zehn Jahren geschaffen. Sie soll die Besitzverhältnisse auf dem Land nach den Jahrzehnten der Vertreibungen neu ordnen).
(…)
Am Donnerstag, 3. Juli, wandten sich einige Bewohner der Region an die Friedensgemeinde und beklagten sich über die Regeln, die ihnen der Paramilitarismus aufzwingen. Vor allem die Vorschrift, sie dürften nur höchstens zwei Hektar zum Anbau nutzen, während die Paras ganze Wälder fällen, um das Land als Viehweide zu nutzen, trifft auf Ablehnung.
Am Dienstag, 8. Juli, hielt sich eine Kommission unter Leitung des Parlamentariers Pedro Baracutao García in unserer Gegend auf, was ausführlich in den sozialen Netzwerken dargestellt wurde. Demnach hat Baracutao dabei staatliche Investitionen unter anderem für den Bau von Ortsverbindungsstraßen gefordert, mit der Begründung, damit könnten die Bauern ihre Produkte besser vermarkten. Baracutao, ist Ihnen denn nicht bekannt, dass die Paramilitärs an der Spitze des Bezirks San José die Bauernschaft daran hindern, auf Flächen größer als zwei Hektar Landwirtschaft zu betreiben? Setzen Sie sich für den Bau illegaler Straßen im Bezirk San José ein, der zum Schutzgebiet von hoher ökologischer Bedeutung erklärt wurde? Glauben Sie wirklich, dass der Bau einer Straße die Probleme und Bedürfnisse von San José de Apartadó löst? – Missbrauchen Sie diese angebliche Notwendigkeit, um von den wahren Bedürfnissen der Bevölkerung in den verschiedenen Dörfern der Gemeinde abzulenken? (Anm. d. Ü.: Jenseits der sachlichen Argumentation gegen die Erschließung von Straßen in einer ökologischen Schutzzone, in der die Paras die Macht beanspruchen – dass die Verfasserin oder der Verfasser des Blogs diesen Ton anschlägt, um Baracutao zu kritisieren, mag auch daran liegen, dass Baracutao früher die 34. Front der FARC kommandiert hat. Deren Operationsgebiet war Antioquia, sie ist unter anderem für die Ermordung von Politikern verantwortlich und war auch an dem Massaker von Bojayá 2002 beteiligt, bei dem bei einer Explosion in einer Kirche 119 Zivilisten starben).
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Am Freitag, 11. Juli, erhielten wir neue Todes- und Vernichtungsdrohungen, besonders gegen unseren juristischen Beistand Germán Graciano Posso und andere Mitglieder des Internen Rates.
Am 6. Juli haben wir uns von Ricardo Quintero verabschiedet, Gründungsmitglied unserer Friedensgemeinde, der nach schwerer Krankheit verstorben ist. Sein Herzschlag mag für immer stillstehen, aber seine Träume und seine Worte werden uns immer begleiten. Dank Dir, Ricardo, Du hast uns so viel vorgelebt, in Deinen Überzeugungen warst Du unerschütterlich bis zum Ende.
Friedensgemeinde San José de Apartadó, 14. Juli 2025