Zwischen Paradoxien und Mehrdeutigkeiten

Die Verantwortung, die Vergangenheit ans Licht zu bringen, ist ebenso wichtig wie der Blick auf die Zukunft und die Risiken, die Geschichte zu wiederholen. Das eine, ohne das andere zu betrachten bedeutet, zu ignorieren, dass Gebäude Fundamente brauchen.

So geht das Leben unserer Friedensgemeinschaft und des Landes seit einiger Zeit weiter. Wir leben zwischen zwei sich widersprechenden Welten:

Einerseits beginnt der Staat jetzt anzuerkennen, dass er uns gegenüber ungeheuerlich grausam war. Nachdem er 27 Jahre lang Botschaften und Dokumente genutzt hat, die den Staat und seine Institutionen von allen Verbrechen freisprechen, sieht er jetzt, dass seine Tausende von Verbrechen nicht länger so konsequent geleugnet und verheimlicht werden können, sondern er vielmehr versuchen muss, Wiedergutmachung zu leisten.

Aber andererseits hat uns die Erfahrung mit den Mächten, die in unserer Umgebung wirklich das Sagen haben gezeigt, dass sie uns ausrotten wollen und dass sie bereits effektive Wege gefunden haben, dies zu tun: Vor allem ist da die territoriale Konsolidierung des Paramilitarismus unter der Herrschaft des Golfclans (das mächtigste Verbrechersyndikat Kolumbiens. Die Bande ist aus rechtsgerichteten Paramilitärs aus der Demobilisierung hervorgegangen. Die Gruppe arbeitet mit dem mexikanischen Sinaloa-Kartell zusammen und ist gegenwärtig für die Hälfte des kolumbianischen Kokain-Exports verantwortlich als eine de facto unanfechtbare Exekutivgewalt. Wikipedia, „Clan del Golfo“).

Es handelt sich um eine bewaffnete Struktur, die nach den Plänen einer Guerilla errichtet wurde, aber vom mächtigen Kapital des Drogenhandels geleitet wird und an die Nichtbeachtung der Polizei, der öffentlichen Kräfte, des Justizapparats und der Mafia der politischen Macht geknüpft ist. Innerhalb dieses Schemas kann weiterhin proklamiert werden, dass wenn es Verbrechen gibt, es auch „Gerechtigkeit“ gibt; dass, wenn es Gewalt gibt, es auch Friedenspolitik gibt, und es bei Ungerechtigkeiten auch Mechanismen der Bürgerbeteiligung gibt. Aber all diese Gegensätze existieren nur in der Fantasie.

Dieses Jahr haben sie Nalleli und Edinson getötet (Nalleli Sepúlveda, 30, und Edinson David, 14, waren die Ehefrau bzw. der Bruder eines der führenden Mitglieder der Friedensgemeinde. Sie wurden am 19. März 2024 von Unbekannten getötet. Danach wurde versucht, die Morde als Verbrechen aus Leidenschaft dem Mann von Nalleli in die Schuhe zu schieben, der jedoch zur Tatzeit mit seinem Vater im Krankenhaus von San José de Apartadó war. Anm. d. Ü.). Vor dem Verbrechen hatten sie uns wochenlang angeschrien, wir sollten uns ihren Entwicklungsplänen und -kriterien unterwerfen, und wenn wir es nicht täten, könnten sie unsere Zäune niederreißen und unser Blut vergießen, wenn wir uns ihren Bulldozern widersetzten.

Am Ende taten sie es mit Verrat und zeigten uns auch, dass sie in der Lage waren, die Medien so zu manipulieren, dass die Menschen falsche und abartige Versionen der Fakten glauben. Es gelang ihnen damit auch, sowohl die Justiz als auch viele Gemeindevertreter auf ihre Seite zu ziehen. Wir haben auch festgestellt, dass diejenigen, die ihre Befehle oder ihr Geschäft infrage stellten, „bei Unfällen“ oder unter „seltsamen Umständen“ ums Leben kamen.

Wir waren eigentlich davon überzeugt, dass eine Welle des „menschlichen Kolumbiens“ in der Politik niemals funktionieren könnte, wenn es eine Karikatur der Gerechtigkeit gibt, wie sie Kolumbien seit vielen Jahrzehnten mit sich herumschleppt und die ungerecht und unfähig funktioniert.

Aber was war das für eine Überraschung, als wir von dem Papier erfuhren, das das kolumbianische Außenministerium am 10. Oktober 2024 an das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte geschickt hat, nachdem sich die Vereinten Nationen im August entsetzt über die Verbrechen an Nelleli und Edison geäußert hatten!

Das Außenministerium listet elf Verfahren auf, die zu beweisen scheinen, dass das Verbrechen an Nalleli und Edinson mit außergewöhnlicher Sorgfalt und Unparteilichkeit untersucht und bestraft werden würde. Diejenigen von uns, die solche Vorgänge aus nächster Nähe miterlebt haben, können jedoch nicht akzeptieren, dass die Inspektion einiger Leichen oder die des Tatorts oder die Verhöre einiger Nachbarn etwas zur Wahrheit beitragen kann, während den Tätern alle mögliche Zeit und alle günstigen Umstände geboten wurden, um sich ihre Vertuschungslügen nach Belieben auszudenken.

Die jüngsten juristischen Winkelzüge bestärken uns in unserer früher gefassten Entscheidung, grundsätzlich nicht auf das kolumbianische Justizsystem zu bauen und uns stattdessen auf die in der Verfassung gewährte Gewissensfreiheit zu berufen.

Wir möchten weitere Ereignisse der letzten Monate festhalten:

Am Samstag, 16. September, wurde unter seltsamen Umständen der leblose Körper des Siedlers Juan de Jesús Graciano, Bewohners des Dorfes El Cuchillo de San José de Apartadó, gefunden. Einige seiner nahen Verwandten waren im Juli 1977 Opfer des ersten Falles geworden, den wir im Bereich der Razzien, Folter, des Verschwindenlassens und der Massenmorde durch die nationale Armee verzeichneten, als die Friedensgemeinschaft noch nicht existierte, Fälle, die der Staat noch immer nicht aufgeklärt hat. Was den Tod von Don Juan de Jesús betrifft, so wird gemunkelt, dass es sich um den Verkauf eines Grundstücks an Paramilitärs handelte, das seine Verwandten besessen hatten. Man habe von ihm verlangt, den Verkauf zu beglaubigen. Er habe abgelehnt, deshalb hätten sie ihn ermordet.

Am Dienstag, 8. Oktober, haben die Bewohner des Dorfes La Esperanza eine neue Drohung gegen die Familie von Germán Graciano, dem gesetzlichen Vertreter unserer Friedensgemeinschaft, ausgesprochen und erklärt, dass die Krankheit, an der César Jaramillo, Direktor der FEDECACAO (der Kakaopflanzer-Verband, Anm. d. Ü.) und Gegner unserer Gemeinschaft, derzeit leidet, das Ergebnis von Hexerei der Familie Graciano gegen ihn ist und dass im Falle seines Todes Germáns Mutter getötet würde. (Es gibt neben einer heilenden, gut gemeinten Seite eine dunklere Seite der „Brujería“ in Kolumbien. Einige Praktizierende nutzen ihre Kräfte für böswillige Zwecke, beispielsweise um Zauber zu bewirken, um anderen Schaden zuzufügen oder Reichtum und Macht zu erlangen. Diese dunklen Hexen, bekannt als Brujos Negros, werden von der Gemeinschaft gefürchtet und oft gemieden, Anm. d. Ü.)

Am Donnerstag, 7. November, wurde unter ungeklärten Umständen die Leiche von Bradier Alonso Ríos in der Gemeinde El Carmen del Viboral, Antioquia, gefunden. Bradier war Mitglied einer der Gründerfamilien der Friedensgemeinschaft, aber im Gegensatz zu seinen Brüdern und Schwestern hatte er einige Schwierigkeiten, alle Anforderungen der Vorschriften unserer Gemeinschaft zu erfüllen. Er schied bei uns aus und kam auf der Suche nach Arbeit in ein Gebiet mit viel Gewalt wie Ost-Antioquia. Ohne dass die Ursachen noch klar sind, tauchte seine Leiche mit tödlichen Wunden am Hals auf einer Weide auf. Es war möglich, seine sterblichen Überreste zu retten, die von unserer Gemeinschaft mit großer Anteilnahme beerdigt wurden.

Am Donnerstag, 21. November, hat der Staatsrat (Consejo de Estado, höchstes Organ der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Anm. d. Ü.) die Armee angewiesen, die Familie von Edilberto Vásquez Cardona, Mitglied unserer Friedensgemeinschaft, zu entschädigen. Edilberto wurde am 12. Januar 2006 von Soldaten des Infanteriebataillons Nr. 46 aus seinem Haus geholt und als “falso positivo” getötet (Unter der Bezeichnung Falsos-Positivos-Skandal wurden Fälle bekannt, bei denen Soldaten der  kolumbianischen Armee während des bewaffneten Konflikts in  Kolumbien wahllos Zivilpersonen töteten und die Leichen als im Kampf getötete Guerilla-Kämpfer präsentierten, um Erfolgsprämien wie zum Beispiel Beförderungen oder Sonderurlaub zu bekommen. Anm. d. Ü.)

Am Donnerstag, 5. Dezember, trafen erneut Morddrohungen gegen drei Mitglieder unseres Internen Rates ein: Germán Graciano, Arley Tuberquia und José Roviro López. Im Falle des letzteren haben sich, wie unserer Gemeinschaft mitgeteilt wurde, die Paramilitärs mehrmals auf den Dorfstraßen und auf der Straße von Apartadó nach San José aufgehalten und auf einen günstigen Moment gewartet, um ihn zu exekutieren, unabhängig davon, ob er von anderen Personen oder von internationaler Begleitung begleitet wird; sie sagen, dass sie jeden angreifen würden, der ihn begleitet. Es ist auch bekannt, dass Arley in der Stadt Apartadó bespitzelt wird, in der Hoffnung, einen seiner Ausflüge für ein Attentat zu nutzen.

Wenn in vielen Regionen des Landes Vorwürfe über paramilitärische Aktionen laut werden, ist es für jeden klar, dass das juristisch keinerlei Folgen haben wird. Sich die Macht anzumaßen, Versammlungen von Bevölkerungsgruppen einzuberufen und sie mit der Androhung von Bußgeldern oder Strafen wie Verbannung oder Tod zu erpressen, das offenbart nicht nur den kriminellen Charakter der Paramilitärs,  sondern auch die unbestreitbare Komplizenschaft derjenigen, die rechtlich den Auftrag haben, die Rechte der Bürger zu garantieren, die unbestreitbare Komplizenschaft von Gemeindevorständen, Stadträten, Bürgermeistern, Gouverneuren, Ministern, Abgeordneten, Staatsanwälten, Richtern, Bürgerbeauftragten, Pflichtverteidigern … Aber keiner von ihnen wurde je wegen Mittäterschaft belangt.

Ein kurzer Blick in das kolumbianische Strafgesetzbuch zeigt schon, dass die täglichen Routineaktionen des Paramilitarismus 33 Tatbestände des Strafgesetzbuches erfüllen. Aber es ist klar, dass weder die Polizei noch die Armee noch die Generalstaatsanwaltschaft sich um die Untersuchung und Bestrafung dieser Taten kümmern. Absolute Straffreiheit ermöglicht es dem Paramilitarismus, ungehindert zu agieren. Dies erklärt das Ausmaß unserer Tragödie.

Und wieder danken wir allen Gemeinschaften und Einzelpersonen, die uns moralisch unterstützt und unseren Widerstand gefördert haben.

Friedensgemeinde San José der Apartadó, 20. Dezember 2024