Über uns das Damoklesschwert der Vernichtung

In diesem Jahr hat unsere Friedensgemeinde San José de Apartadó eine zunehmende Verfolgung durch Kampagnen erlebt, die zivile Organisationen wie die Juntas de Acción Comunal vereinnahmt haben.

Es lohnt sich, daran zu erinnern, was wir schon in unserem Bericht vom 6. Mai 2021 angeprangert haben. Zum einen geht es um das Kommuniqué von César Jaramillo, dem Hauptinitiator dieser Verfolgung, mit dem Titel „An die staatlichen Behörden“, in dem gefordert wurde, dass nur die Meinung der Juntas de Acción Comunal gehört wird und nicht die unserer Friedensgemeinschaft (Anm. d. Ü.: Diese Juntas (wörtlich: kommunale Aktionsräte) sind in der kolumbianischen Verfassung vorgesehene Mitbestimmungsgremien auf lokaler Ebene, die in der Praxis allerdings oft von den örtlichen Machthabern gelenkt und manipuliert werden). Diese Erklärung fällt zeitlich mit der Verfassungsbeschwerde zusammen, mit der die 17. Heeresbrigade im Oktober 2018 gegen uns vorgegangen ist, um uns daran zu hindern, mit unseren regelmäßigen Blog-Berichten die Zivilgesellschaft darüber zu informieren, was bei uns geschieht

Anmerkung der Übersetzung:
Eine Verfassungsbeschwerde, spanisch acción de tutela, kann in Kolumbien vor jedem Richter erhoben werden, anders als in Deutschland, wo allein das Bundesverfassungsgericht dafür infrage käme, erläutert Professor Michael Stöber, Präsident der Deutsch-Kolumbianischen Juristenvereinigung auf AnfrageJ: „Ganz ähnlich wie bei der deutschen Verfassungsbeschwerde dient die ‚acción de tutela‘ der Geltendmachung einer Verletzung von Grundrechten. Wenn das Gericht die ‚acción de tutela‘ für begründet hält, kann es Maßnahmen zur Abhilfe verfügen. Im vorliegenden Fall könnte dies zum Beispiel eine Unterlassungsverfügung sein, d. h. das Gericht würde der Gegenpartei untersagen, die betreffenden Inhalte weiterhin in dem Blog zu veröffentlichen. Während nach deutschem Verständnis der Staat und seine Organe grundsätzlich nicht Grundrechtsberechtigte, sondern nur Grundrechtsverpflichtete sind (und deshalb grundsätzlich keine Verfassungsbeschwerde erheben können), ist das kolumbianische Verständnis der Grundrechte weiter. In Kolumbien können u. U. auch staatliche Organe wie hier die Streitkräfte sich auf Grundrechte berufen. In Deutschland wäre dies nicht möglich.“
Die Übersetzer danken Professor Stöber für seine Erklärungen.

Zum anderen muss erinnert werden an den Aufruf ebendieses Herrn Jaramillo, der die Vorsitzenden der Junta de Acción Comunal von La Esperanza dazu brachte, sich in einem „Vertrag“ zu verpflichten, unsere Friedensgemeinschaft zu vernichten. Dieser Text wurde am 26. April 2021 im Rathaus von Apartadó verfasst. (…)

Obwohl es den Anschein hatte, dass diese Kampagne eingestellt worden war, zeigen die Ereignisse dieses Jahres dagegen, dass sie mit extremen Formen der Gewalt wiederbelebt wurde. Die Audios, die zwischen Februar und Mai dieses Jahres zirkulierten, begleitet von den zerstörerischen Aktionen gegen unsere Farm Las Delicias im Dorf La Esperanza, die in der Ermordung von Nalleli Sepúlveda und Edinson David am 19. März gipfelten zeigen, dass diese Kampagne nach wie vor gegen uns geführt wird. Sie ist mit der gesamten paramilitärischen Kontrolle des Gebiets unter der Führung der kriminellen Organisation Clan del Golfo verbunden ist (Anm. d. Ü.: Der Clan del Golfo, auch Clan Úsuga, Los Urabeños oder Autodefensas Gaitanistas de Colombia genannt, ist laut Wikipedia das mächtigste Verbrechersyndikat Kolumbiens. Die Bande ist aus rechtsgerichteten Paramilitärs hervorgegangen. Die Gruppe arbeitet mit dem mexikanischen Sinaloa-Kartell zusammen und ist für große Teile des kolumbianischen Kokain-Exports verantwortlich. Der Clan benutzt als operative Basis die schwer zugängliche nordwestkolumbianische Subregion Urabá, in der San José de Apartadó liegt – daher auch der Name „Los Urabeños“.)

In den letzten Wochen kam es zu neuen Fällen dieser Verfolgung, die wir vor der Öffentlichkeit zu Protokoll geben:

Am Freitag, 7. Mai, wurde die starke Präsenz mehrerer bekannter Paramilitärs an dem als Chontalito bekannten Ort festgestellt. Dabei war Adolfo Guzmán, ein bestens bekannter Paramilitär aus dem Dorf La Unión.

Am Samstag, 18. Mai, wurde die Gemeinschaft auf ein Dokument aufmerksam, das von einigen Personen aus dem Dorf San José de Apartadó unterzeichnet und im Mai bei verschiedenen nationalen und internationalen Behörden eingereicht wurde. Darin bringen sie nicht nur ihre Ablehnung der Morde an Nalleli Sepúlveda und Edinson David zum Ausdruck, sondern klagen auch die Stigmatisierung der Zivilbevölkerung unserer Umgebung und unserer Friedensgemeinschaft an. Bei der Durchsicht der Liste der Unterzeichner wird jedoch schnell deutlich, dass einige der Unterzeichner genau diejenigen waren, die nicht nur zu den Verbrechen motiviert haben, sondern auch Gewalttaten wie die Zerstörung von Zäunen und Toren und deren Verbrennung sowie die Verbreitung des Slogans „keine Friedensgemeinschaft mehr“ gefördert haben und die den Plan zur Auslöschung von Menschenleben unterstützt haben, wie aus den verschiedenen Audios und Videos hervorgeht, die in den sozialen Netzwerken kursierten.

Am Montag, 20. Mai, wurden Bernardo Ceballos und Nohemi David, die Eltern unseres Genossen Diego und damit die Schwiegereltern unserer am 19. März ermordeten Genossin Nalleli Sepúlveda, telefonisch von der Staatsanwaltschaft vorgeladen. Seit dem Verbrechen hatten die Täter Diego aufs übelste verleumdet, indem sie versuchten, ihm das Verbrechen in die Schuhe zu schieben, obwohl er sich zur Tatzeit um seinen Vater kümmerte, der in Apartadó im Krankenhaus lag. Die Staatsanwältin namens Amelia, die die Eltern von Diego absolut regelwidrig per Telefon vorlud, bestätigt die lange, feststehende Tradition, die die Justiz in Urabá kennzeichnet: Dass gegen die Opfer ermittelt wird und niemals gegen die Täter. In der Tat gibt es kein erkennbares Ermittlungsinteresse der Staatsanwaltschaft gegenüber bestimmten Leuten der Junta de Acción Comunal von La Esperanza, die bei ihren gewalttätigen Angriffen auf unseren Bauernhof Las Delicias ganz offen vorgingen. Sie schreckten auch nicht davor zurück, die Mitglieder unserer Gemeinschaft in ihren Audios und Videos öffentlich an den Pranger zu stellen und zu unserer Vernichtung aufzurufen. Sie erklären, dass sie, wenn es nötig sei, Blut zu vergießen, Blut vergießen würden. All dies zeigt, dass die Tradition der Straflosigkeit der Justiz von Urabá unangetastet bleibt, zur Schande des Landes und der Welt.

Am Dienstag, 21. Mai, wurde bekannt, dass die Paramilitärs einen großen Teil des unberührten Waldes am sogenannten Chontalito im Gebirge Serranía de Abibe abgeholzt haben. Dort prangern wir seit mehreren Monaten einen Parkplatz und eine paramilitärische Unterkunft an.

Am Dienstag, 28. Mai, stellte eine humanitäre Mission unserer Gemeinschaft beim Betreten des Anwesens Las Delicias im Dorf La Esperanza fest, dass sich die Gewalt nun gegen die Tiere richtet, die die Lebensgrundlage der Familien der Gemeinde bilden. Im Laufe der Zeit wurden mehrere Rinder mit Macheten verwundet, eines von ihnen wurde geschlachtet.

Am Sonntag, 2. Juni, kamen nachts nahe den Dörfern Arenas und La Unión mehrere Männer in Tarnuniform mit Gewehren und ELN-Abzeichen und sagten den Dorfbewohnern, dass sie nachts niemanden sehen wollen. Wir haben keinen Zweifel daran, dass in einem Gebiet, das vollständig von den Paramilitärs kontrolliert wird, es die Paras selbst es sind, die sich als andere bewaffnete Akteure tarnen, um die Region mit noch mehr Terror zu überziehen.

Am Mittwoch, 5. Juni, wurde eine Delegation der nationalen Regierung, verschiedener Ministerien und Verwaltungseinheiten in Begleitung mehrerer Botschafts- und UN-Vertreter in unserer Friedensgemeinde empfangen. Dieses Treffen war eine Fortsetzung des Treffens vom 27. März auf der Farm Las Delicias im Ortsteil La Esperanza, bei dem eine Lagebeurteilung erstellt und einige Schutzmaßnahmen zugesagt wurden. Erneut wurde deutlich, dass es keinerlei Genehmigungen für den Bau von Straßen in diesem Gebiet gibt, was die laufenden Projekte illegal macht. Die Abwesenheit des Umweltministeriums war bedauerlich, denn während dieses Treffens entnahmen mehrere Kipplaster auf ihrem Weg durch unsere Finca La Roncona illegal Baumaterial aus dem Fluss, und zwar mit Genehmigung der Chefs der Junta de Acción Comunal des Dorfes La Victoria, die angeblich für die Entnahme von illegalem Material Gebühren erhoben.

Am Donnerstag, 6. Juni, wandte sich ein dunkel gekleideter Paramilitär an einen Verwandten von Germán Graciano, dem Rechtsvertreter unserer Friedensgemeinschaft, um ihm mitzuteilen, dass Graciano bereits ermordet worden sei. Das stellte sich als falsch heraus, aber es bestätigte, dass der Auftrag zu seiner Ermordung unter den Paramilitärs zirkulierte, so wie auch seit Monaten immer wieder die Rede von Mordaufträgen gegen andere Mitglieder der Gemeinschaft und des Internen Rates unserer Friedensgemeinde die Rede ist.

Wir danken erneut vielen Gemeinschaften in Kolumbien und auf der ganzen Welt für ihre Solidaritätsbekundungen angesichts der sich verschlimmernden Verfolgung gegen unsere Friedensgemeinschaft.

Besonders hervorheben möchten wir die umfangreichen und wohldurchdachten Dokumente, die sie an die Instanzen des Interamerikanischen Systems für Menschenrechte und an die verschiedenen Behörden des kolumbianischen Staates geschickt haben, in denen sie Gerechtigkeit und Schutz für uns fordern, stets unter Beachtung der internationalen Verträge und der nationalen Verfassung selbst.

Friedensgemeinde San José de Apartadó, im Juni 2024